„Und wenn schon!“, erwiderte Roxane, drehte sich in der Luft um und verschränkte ihre Ärmchen.
„Ich mag der kleinen Knöllin helfen!“, schniefte Lil und eine Träne kullerte ihre Wange hinab.
Der Mäusefleder schnaufte. „Weißt du, kleine Lil, das ist eine sehr gefährliche Reise. Ihr müsstet den Wald der Fantasien durchqueren. Dort leben zahlreiche magische Wesen, gute, wie böse. Es gibt gefährliche Pflanzen, die sich von Fleisch ernähren, oder aber einfach nur nach dir schnappen und dich gefangen halten. Hier ist auch die Zeit anders. Während im Wald der Fantasien zwei Tage vergehen, vergeht hier gerade einmal einer.
Wenn ihr es geschafft habt, diesen Wald zu durchqueren, kommt ihr ins Feuerland. Eine Region, bestehend aus Lava, Magma, Asche, Vulkanen und Hitze. Und nicht zu vergessen die Feuerwesen und die Schattenwesen, die dort leben. Und hier beginnt erst das Schwierige. Ich meine, wie wollt ihr ein Knolljunges aus den Fängen der Schattenwesen befreien?“
Primel war dem Mäusefleder sehr dankbar. Er hatte all ihre Bedenken auf den Punkt gebracht.
„Wir warten, bis unsere Eltern zurückkommen“, schlug sie nun noch einmal vor.
„Böse Blumen“, murmelte Lil.
„Lil, hör auf, es dir vorzustellen! Hör sofort damit auf!“, kreischte Borke plötzlich. Er stolperte auf seinen kleinen Beinchen auf Lil zu. Diese sah abwesend in die Ferne. Der Mäusefleder griff nach ihrem Arm, doch er griff einfach hindurch.
„Nein, Lil, hör auf, es dir vorzustellen!“, schrie er, doch Lil reagierte nicht.
Primel erstarrte.
Sie blickte ungläubig ihre Schwester an. Was geschah mit ihr?
„Lil!“, rief sie und stürzte nun auch auf sie zu. Panisch wollte sie sich auf sie schmeißen, doch sie glitt durch sie hindurch und knallte hart auf den Boden.
„Lil! Was soll das? Borke? Was ist mit ihr los?“, kreischte Primel hysterisch und sie versuchte erneut, ihre kleine Schwester zu packen. Ohne Erfolg.
„Lass das, Primel. Es ist zu spät. Wir können sie nicht mehr aufhalten. Sie ist bereits auf dem Weg in den Wald der Fantasien“, meinte Borke und Primel fand, er klang dabei sehr niedergeschlagen.
Hitze und Kälte fluteten durch ihren Körper. Und jetzt? „Hol sie zurück! Borke, hol sie zurück!“, schrie sie und setzte sich verzweifelt auf den kühlen Boden. Noch immer stand Lil im Zimmer, ohne dass man sie berühren konnte, doch ihre Konturen verschwammen und sie selbst wurde durchscheinend. Mit Tränen in den Augen sah Primel zu, wie Lil immer mehr verschwand. Dann war sie weg. Keine Spur von ihr war zu sehen.
„Um in den Wald der Fantasien zu gelangen, muss man ihn sich vorzustellen. Und man muss von der Existenz magischer Wesen wissen. Je jünger das Kind, desto schneller geht es und desto weniger Angaben braucht man. Aber dass es bei Lil so schnell ging, hätte ich nicht gedacht“, murmelte Borke vor sich hin. „Sie muss ein besonderes Gefühl für Magie haben.“
„Wir müssen ihr helfen! Was, wenn gerade jetzt eine böse Pflanze nach ihr schnappt!“, rief Primel panisch aus. „Und was, wenn Schlingpflanzen sie gefangen halten, oder sonst irgendwelche Wesen ihr etwas …!“
„Primel, beruhige dich!“, unterbrach sie Borke. „Wir werden ihr helfen. Und der Wald der Fantasien ist vor allem schön. Er ist nicht wie das Feuerland. Es gibt Gefahren, aber nicht an jeder Ecke.“
„Wie komme ich in diesen Wald?!”
Sie würde ihre Schwester zurückholen. Sie hatte ihrer Mutter versprochen, auf Lil aufzupassen!
Auch Roxane schwebte näher heran. „Genau, wie kommt man jetzt hinein?“, wollte auch sie wissen.
„Dir geht’s doch gar nicht um Lil oder das Knolljunge!“, schrie Primel die Fee noch einmal an, „Du willst doch nur dein blödes Abenteuer erleben!“
„Und wenn schon!“, entgegnete Roxane.
„Die Sache ist die“, meinte Borke zögerlich und hatte sofort wieder die volle Aufmerksamkeit. „Ich weiß nicht, wie man wieder herauskommt.“
„Was?“, entfuhr es Primel entgeistert. „Das heißt, meine Schwester ist was weiß ich wo und keiner weiß, wie wir sie zurückholen können?“
Der Mäusefleder nickte ernst. Primel kniff die Augen zusammen. Sie versuchte verzweifelt, sich eine fleischfressende Pflanze vorzustellen. Borke meinte, man gelange durch Vorstellungskraft in den Wald der Fantasien. Aber die Panik flutete ihre Gedanken und machte es ihr unmöglich, sich auf die Pflanzen zu konzentrieren. Außerdem musste sie immer an eines dieser dünnen Gewächse denken, die sich die Fliegen in der Küche schnappten. Das konnte unmöglich dem Wald der Fantasien ähneln.
„Hilf mir, beschreib mir genauer, wie es dort aussieht“, befahl Primel hektisch und Roxane kam noch ein Stückchen näher.
„Ich war selbst noch nie dort“, verteidigte sich Borke und wich zurück. „Nur Kinder können den Wald betreten. Sobald sie aus dem Kindesalter heraus sind, reicht die Vorstellungskraft nicht mehr. Und Schattenwesen. Sie können die Grenzen mühelos überqueren.“
Roxane lächelte überlegen: „Ich bin noch genau bis morgen ein Feenkind. Also los!“
Primel wurde schlecht. Sie musste sich zusammenreißen, um nicht in Panik zu verfallen. Sie sah aus dem Augenwinkel, wie Roxane durchscheinend wurde. Sie hatte die Augen geschlossen und konzentrierte sich auf irgendetwas. Dann war sie fast vollständig durchsichtig. Primel erkannte die Hängematte durch sie hindurch. Und plötzlich war Roxane verschwunden. Lil war in einem gefährlichen Wald mit einer egoistischen Fee und fleischfressenden Pflanzen. Na super. Warum konnte sie nicht auch dorthin? Warum konnte sie es sich nicht vorstellen?
Borke saß verzweifelt und zusammengekauert vor ihr auf dem Boden. Primel schluckte ihre Wut hinunter und schloss erneut die Augen. In ihrem Geiste wuchs eine riesige Pflanze empor. Sie hatte Zähne und spitze Krallen, aber wunderschöne, duftende, knallrote Blätter. Daneben rankten sich Schlingpflanzen um einen Baum. Alles war grün und es roch gut nach den Blättern.
„Primel!“, drang von irgendwoher eine Stimme zu ihr durch. „Primel! Geh du nicht auch noch. Was soll ich eurer Mutter bloß erzählen?“, flehte der Mäusefleder.
Kurz verschwand der Duft und Primel spürte, wie die Vorstellung ihr entglitt, doch sie klammerte sich mit aller Kraft an die Schmetterlinge, die gerade vor ihrem inneren Auge aufgetaucht waren. Sie musste Lil retten. Sie musste einfach Lil retten.
Ganz fest kniff sie die Augen zusammen und ignorierte Borkes Flehen, das sich immer weiter von ihr entfernte, bis sie nichts mehr hörte. Sie versank im Grün ihrer Vorstellung, ließ sich von bunten Vögeln tragen und wich frechen Lianen aus. Für nichts anderes hatte sie mehr Gedanken übrig.
Ein Finger piekte sie in den Arm. Nein, sie wollte gerne noch länger in der Vorstellung verharren. Wieder dieses nervige Pieken. „Primel, ich an deiner Stelle würde jetzt sofort die Augen aufmachen und Lil helfen!“, vernahm sie Roxanes Stimme.
Beim Namen ihrer Schwester schlug sie tatsächlich die Augen auf und tauchte aus ihrer Vorstellung auf. Sie war verwirrt. Um sie herum war alles grün und trotzdem farbenfroh.
Bunte Blüten, teilweise so groß, wie sie selbst ragten empor und von allen Seiten strömte ihr ein Duft entgegen, der den aus ihrer Fantasie um ein Vielfaches übertraf.
Mit offenem Mund ließ sie ihren Blick wandern. Grüne Pflanzen, hohe Bäume, bunte Blumen und da, ganz weit oben…
„Lil!“, entfuhr es ihr überrascht. Ihre kleine Schwester saß hoch oben, weit über ihrem Kopf in einem seltsam verschlungenen Baum. Ihre Beinchen baumelten in der Luft und sie quiekte fröhlich.
„Schau, Priml! Lil ist hoch oben!“, rief sie erfreut.
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