Sie überlegte und dann hatte sie die perfekte Frage gefunden.
„Was ist mit dem vermissten Knolljungen geschehen, das meine Eltern gerade suchen?“
Ihre Stimme glitt in Wellen durch den Dampf. Er vibrierte und nahm Primels Worte in sich auf. Dann veränderte er die Farbe.
Das weiß wurde zu grün und langsam formten sich klare Bilder. Es war wie im Kino, nur viel eindrucksvoller.
Man sah ein Knolljunges, eine kleine Knöllin, hinter ihrer Mutter und ihrem Bruder herlaufen. Primel erkannte in ihm das Knolljunge, das sie heute schon gefüttert hatte.
Die kleine Knöllin schien verspielt zu sein. Sie stupste jeden Farn an und beschnupperte heruntergefallene Äste. Ab und zu jagte sie einem Sonnenstrahl nach.
Dann veränderte sich das Bild und Primel erkannte wieder die drei Knolle.
Eng aneinander gekauert saßen sie in einer tiefen Wurzelgabel. Über dem Blätterdach leuchteten die Sterne.
Und dann ging alles ganz schnell. Ein Knurren ertönte, ein Schatten sprang die Knollmutter an. Sie verließ die Wurzel und schmiss sich dem Angreifer entgegen.
Das kleine Knolljunge krabbelte über die Wurzel und suchte dahinter Schutz. Seine Schwester folgte ihm, doch sie war kleiner und schaffte es nicht die Wurzel hinauf.
Ein Schatten packte sie und dann wechselte das Bild.
Geschockt starrte Primel den Dampf an. Langsam veränderte sich seine Farbe wieder.
Es wurde heller, die Sonne schien und man sah die kleine Knöllin im hohen Gras kauern. Ein weiteres Wesen, das Primel noch nie gesehen hatte, saß bei ihr. Auch dieses schien noch sehr jung zu sein. Beide wirkten verängstigt.
Dann sah man die kleine Knöllin in einer Höhle, einem Schatten gegenüber. Das Bild war düster.
Der Dampf wechselte zu Rot. Lavaströme flossen über felsige Vulkanlandschaft und Primel meinte förmlich die Hitze zu spüren. Krater taten sich auf und hier und da spritzte eine Fontäne aus Magma in die Höhe, dann sahen die Mädchen die Schatten.
Sie glitten durch das Feuer und verdunkelten den Himmel.
Plötzlich wurde der Dampf wieder weiß. Stück für Stück zog er sich in den Fingerhut zurück, bis schließlich nichts mehr zu sehen war und Roxane das Gefäß unter ihrem Rock verstaute.
Primel zitterte stark und sie atmete schnell.
Die arme kleine Knöllin. Ihre Eltern waren auf der falschen Spur. Es waren keine Menschen, die das vermisste Knolljunge entführt hatten. Es war auch nicht im Wald zurückgeblieben. Es war in der Gewalt der Schattenwesen.
„Das vermisste Knolljunge ist im Feuerland“, stellte Roxane fest.
Sie klang aufgeregt, doch Primel war zum Schreien zu Mute. Allein bei dem Gedanken an diese dunklen Schatten fröstelte sie.
„Du bist wirklich super, Primel, du hast bis jetzt von allen, die mir ein Versprechen gegeben haben, deines am schnellsten eingelöst. Wir haben jetzt ein Abenteuer! Wir befreien die kleine Knöllin“, rief Roxane, sprang auf und ab und flog aufgeregt noch eine Runde durch das Zimmer.
„Oh ja!“, schrie auch Lil.
Primel sank auf Lils Bett in die dicken Kissen. Ihre Knie zitterten, als sie verstand, was Roxane und ihre Schwester da gesagt hatten.
Sie wollten wirklich zusammen in dieses seltsame Feuerland reisen und das Knolljunge befreien?
Sie durfte nicht zulassen, dass ihre Schwester sich in Gefahr begab.
Sie musste mit ihrer Mutter sprechen. Aber die hatte ihr Handy ausgeschaltet.
Primel spürte Verzweiflung in sich aufsteigen. Hätte sie nur nicht dieser Fee versprochen, ihr ein Abenteuer zu verschaffen. Wenn sie gewusst hätte, um welches Abenteuer es sich handelte…
Ihr wisst Bescheid, wenn nicht klingelt bei der Nachbarin oder fragt den Mäusefleder…, kamen ihr die Worte ihrer Mutter in den Kopf.
Die Nachbarin wusste nicht einmal von der Existenz magischer Wesen. Diese Möglichkeit fiel also flach. Da blieb nur noch der Mäusefleder.
„Ok, wenn wir jetzt gleich aufbrechen, sollte ich es rechtzeitig zurück zu meinem Stamm schaffen. Weiß jemand, wo das Feuerland liegt?“, fragte Roxane und blickte in die Runde.
Primel atmete erleichtert aus. Wenn keiner wusste, wo dieses Land lag, würden sie auch nicht hingehen können.
„Ich frag den Mäusefleder“, rief Lil begeistert, rappelte sich auf und lief eilig aus dem Zimmer. Mist, ihre Schwester war nicht auf den Kopf gefallen. Primel sprang ebenfalls auf. Das durfte sie nicht zulassen. Ihre Schwester hatte die Gefahr noch nicht begriffen.
Sie stürmte aus dem Zimmer und hatte Lil am oberen Ende der Kellertreppe eingeholt. Sie schnappte sich den Arm ihrer Schwester und zischte ihr zu: „Wir werden nicht losziehen und einfach mal schnell eine kleine Knöllin aus einem Land voller Gefahren befreien.“
„Aber du hast es versprochen“, drängte sie.
„Nein“, meinte Primel. „Ich habe versprochen, Roxane ein Abenteuer zu besorgen und das hat sie nun. Ich habe nie gesagt, dass wir sie auf dieses Abenteuer begleiten. Was sie jetzt macht, kann uns egal sein. Wir bringen uns nicht in Gefahr.“
„Aber Priml. Wir müssen der Knöllin helfen“, versuchte sie es weiter. Primel ärgerte sich. Jetzt stieg das Mitleid mit der traurigen Knollmutter, dem verspielten Knolljungen und der verzweifelten, ängstlichen, entführten kleinen Knöllin in ihr auf.
Was, wenn Lil von ihr getrennt wäre und sie nicht wüsste, wo sie war? Das wäre schrecklich. Aber die Gefahr?
War es möglich, das Knolljunge zu befreien, ohne sich in Gefahr zu begeben? Wohl kaum.
„Priml, wir müssen den Knollen helfen! Wir können nicht einfach dasitzen und wissen, dass die kleine Knöllin in Gefahr ist!“, zeterte Lil weiter.
Primel schüttelte entschieden den Kopf. „Wir können warten, bis Mama und Papa heute Abend zurückkommen und dann sollen die entscheiden!“, beschloss sie.
„Heute Abend ist zu spät“, ertönte Roxanes Stimme von hinten.
Sie war ihnen unbemerkt gefolgt. Primel fluchte innerlich. Jetzt hatte sie gerade ihre kleine Schwester davon überzeugt, hier zu bleiben und nun kam Roxane und stimmte sie wieder um. Diese blöde Fee…
„Wenn wir heute Abend erst etwas unternehmen, komme ich nicht rechtzeitig zu meinem Stamm zurück. Außerdem, wer weiß, was der kleinen Knöllin bis heute Abend alles passieren kann“, fuhr sie mit honigweicher Stimme fort. Sofort hatte die Fee Lil wieder auf ihrer Seite.
Primel schüttelte den Kopf. Sie durfte sich nicht ablenken lassen. Sie kniff die Augen fest zusammen.
„Nein!“, rief sie, lauter als beabsichtigt. „Nein!“
Die Kellertür ging auf und der Mäusefleder streckte seinen Kopf hinaus.
„Was ist so wichtig, dass man einen alten Mäusefleder aus dem Schlaf reißt?“, fragte er und schmunzelte.
„Borke!“, rief Lil erfreut, „Wir ziehen los und erleben ein Abenteuer!“
Primel atmete erleichtert aus und öffnete die Augen wieder. Er würde Lil bestimmt nicht erlauben, mit Roxane zu gehen.
Sie drängte ihre Schwester durch die Tür und schloss sie hinter sich. Leider wischte auch Roxane durch den Spalt hinein.
Dann begann Primel zu erzählen, was passiert war. Borke hörte geduldig zu, er nahm Primels Befürchtungen mit gerunzelter Stirn zur Kenntnis und Primel fühlte sich verstanden und geborgen. In seiner Gegenwart wirkten die Schattenwesen auch gar nicht mehr so bedrohlich.
Primel endete und blickte ihn gespannt an. Was würde er dazu sagen?
Doch Roxane kam ihm zuvor. „Ich muss rechtzeitig zu meinem Stamm zurück!“, zischte sie und man merkte ihre Wut und Verzweiflung. „Aber ich brauche Hilfe. Alleine kann ich die Knöllin nicht befreien und dieses Abenteuer erleben.“
„Dir geht es doch gar nicht um die Knöllin, sondern nur um dein blödes Abenteuer!“, giftete Primel zurück.
Das alles war ihr zu viel und die Situation überforderte sie.
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