Verlockungen des Schwarzen Lords verfallen waren, hatte das Haus Deshay
fast widerstandslos überwältigt. Dessen Krieger waren unter den Bann der
Zauberer geraten, und so blieben die Frauen und wenigen Kinder über viele
Jahrtausende der Willkür der Finsternis ausgesetzt. Zu der Zeit, als das Haus
überwältigt wurde, hatte Llaranas Geburt kurz bevorgestanden, und ihre
Mutter hatte ihre Niederkunft hinausgezögert, da sie nicht wollte, dass
Llarana in Finsternis aufwuchs. Aber die Macht des Schwarzen Lords und
seines Gefolges, der Grauen Zauberer und der Legionen der Orks, war groß
gewesen, und Llaranas Mutter begann ihrem Zauber zu verfallen. So gebar sie
in ihrer Not Llarana, kaum fünfhundert Jahreswenden bevor schließlich ein
Menschenwesen namens Nedeam und seine Gefährten das Haus erlösen
sollten. Leoryn kannte Nedeam gut und wusste, dass er bei einem Kampf in
engsten Kontakt mit einem der Grauen Wesen geraten war. Sie ahnte, dass
sich bei diesem Ringen auch ein geistiges Band zwischen dem
Menschenwesen Nedeam und der Elfin Llarana gespannt hatte. Leoryn
konnte dies spüren, seit sie dem Abschied beider vor den Toren Merdonans
beigewohnt hatte. Andere mochten es nicht bemerkt haben, aber Leoryn hatte
die unterschwelligen Schwingungen deutlich gefühlt. Dachte Llarana in
diesem Moment womöglich an das Menschenwesen Nedeam?
»Sie wird sich bewähren.« Der kurze Satz des Gelehrten Mionas schreckte
Leoryn aus ihren Gedanken.
Mionas löste sich von der Reling. Die »Wellenvogel« war der Zufahrt nun
so nahe, dass die Schatten der umgebenden Felsen auf sie fielen. »Sie wird
sich bewähren«, sagte der Gelehrte nochmals. »Sie ist ein gutes Schiff. Ich
habe die Last im Frachtraum überprüft, Kapitän Herolas. Ihr habt richtig
daran getan, so viele Goldgewichte aufzunehmen. Das macht die Fahrt
sicherer.«
»Wir werden noch einige davon brauchen«, erwiderte der Kapitän
lächelnd. »Es sollen noch viele Schiffe gebaut werden, und dafür benötigen
wir jede Menge zusätzliches Gold.«
»Das ist bereits angefordert«, versicherte Mionas. »Die Menschenwesen
werden es uns liefern.«
Jalan musterte den Gelehrten. »Wissen sie, welchem Zweck es dient? Dass
wir mit seiner Hilfe zu den Neuen Ufern aufbrechen werden?«
»Natürlich nicht.« Mionas schüttelte entschieden den Kopf. »Es würde sie
nur beunruhigen.« Er lächelte sanft. »Die Menschenwesen mögen unsere
Freunde sein, doch müssen sie nicht alles wissen.«
»Hm.« Elodarion sah, wie der Schatten über das Schiff wanderte. Langsam
und bedächtig tauchte die »Wellenvogel« in die Zufahrt und schob sich
zwischen die Felsen, die steil zu beiden Seiten aufragten. »Sie werden es
wohl erfahren, wenn sie das Gold herbringen. Dann werden sie die Schiffe
sehen.«
»Sie werden es nicht hierher bringen.« Mionas zuckte die Achseln.
»Sondern nach Gendaneris. Dort holen wir es dann ab.«
»Am Rückmast die Hauptsegel lösen«, befahl soeben Kapitän Herolas.
»Gendrion, leg das Ruder mittschiffs. Gib Acht, dass uns die Strömung unter
den Klippen nicht zur Seite drückt, wir haben noch wenig Fahrt.«
Gendrion wiederholte die Anweisungen und murmelte dann irgendetwas
von jungen, unerfahrenen Seeelfen. Die »Wellenvogel« begann sich leicht auf
und ab zu bewegen, als der Wellengang an den Klippen sie traf. Der scharfe
Bug teilte das Wasser, als würde er es zerschneiden, und ließ es dann in
sanften Wogen an der Bordwand entlanggleiten.
Leoryn legte ihre Hände auf die Reling. »Dieses Schiff ist das erste von
vielen«, sagte sie leise und warf einen flüchtigen Blick auf ihren Bruder. »Sie
werden rasch gebaut sein. Ich kenne den Fleiß der Elfen der See.«
Lotaras legte seine Hand unmerklich auf die ihre. »Ja, die Reise zu den
Neuen Ufern wird bald beginnen.«
Seine Schwester seufzte leise. »Die Menschenwesen wissen, dass unsere
elfischen Häuser eines Tages die alte Heimat verlassen werden, um zu den
Neuen Ufern aufzubrechen. Aber sie ahnen nicht, wie nah dieser Tag schon
ist. Wir sollten es ihnen sagen.«
Lotaras räusperte sich beklommen. »Der Ältestenrat der Elfen in seiner
unendlichen Weisheit wird gute Gründe dafür gehabt haben, es vor den
Menschen verborgen zu halten.«
»Vielleicht ist es wirklich so«, erwiderte sie zögernd.
Als das Schiff langsam aufs offene Meer hinausglitt, empfanden sie beide
dasselbe unbehagliche Gefühl.
Die alte Handelsstraße war schon lange vor der Zeit des Ersten Bundes
angelegt worden und hatte die einstigen Handelsmetropolen der Königreiche
miteinander verbunden. Sie war breit und mit großen Steinplatten gepflastert,
damit sie auch bei schwieriger Witterung genutzt werden konnte. Doch die
Zeit war nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Erdreich hatte sich unter den
vielen Lasten gesenkt und verdichtet, jedoch an einigen Stellen stärker als an
anderen, und so wies der Weg gelegentlich Unebenheiten auf, wo Steinplatten
abgesackt waren oder sich gehoben hatten.
Über viele Jahrtausendwenden hatten die Füße und Hufe von Händlern,
bewaffneten Begleitern und Lasttieren die Straße benutzt, dann hatten die
massiven Scheibenräder den Platten zugesetzt. Erst in den letzten Jahren
waren die neuen Speichenräder aufgekommen. Sie waren leichter als die
Scheibenräder und zugleich stabiler, was es den Händlern erlaubte, größere
Lasten mitzuführen. Aber jeder Belastbarkeit waren Grenzen gesetzt, und an
eine dieser Grenzen stieß nun das Rad von Helderims Wagen.
Die Steinplatte stand nur ein kleines Stück hervor, aber das rechte
Vorderrad des Frachtwagens traf die Kante sehr unglücklich. Ein heftiger
Schlag ging durch das Fahrzeug, zerbrach den Eisenreifen, der als Schutz um
das Rad gezogen war, und ließ das Holz zersplittern. Mit einem Ruck sackte
der Wagen auf dieser Seite ein. Helderim wurde in weitem Bogen vom Bock
geschleudert und landete unsanft auf dem Boden, während das Fahrzeug
schleifend und knirschend noch ein Stück die Straße entlanggezerrt wurde, bis
ein Begleiter zu Hilfe kam und den Zugtieren in die Zügel fiel.
»Bei den Finsteren Abgründen«, fluchte ein Reiter im grünen Umhang und
mit dem Rosshaarschweif der Schwertmänner am Helm, bevor er rasch aus
dem Sattel stieg, um sich nach Helderim zu bücken. »Ist Euch etwas
geschehen, guter Herr Helderim?«
»Ihm geht es gut«, erklang eine unwirsche Stimme aus dem Inneren des
Wagens. »Seht lieber nach mir, Schwertmann. Ich habe sehr gelitten.«
Entlang der langen Kolonne erschollen Rufe und Flüche, bis schließlich
der gesamte Tross zögernd zum Stehen kam. Weitere Männer eilten herbei
und sahen eine Bewegung hinter der Plane aus dunklem Leinen, die den Blick
ins Wageninnere verdeckte.
»Warte, Gunwyn, meine Liebe«, ächzte der schmächtige Händler, »ich bin
sofort bei dir.«
Er schüttelte dankend die Hand des Pferdelords ab und humpelte mit
schmerzverzerrtem Gesicht zum Wagen zurück. Sein kostbar besticktes
Wams war aufgerissen, ebenso wie seine Hose, und auch seine Hände waren
abgeschürft, doch schien er dafür keinen Blick zu haben, als er sich halb auf
den schräg stehenden Wagen zog und besorgt die Plane zur Seite schob. »Ich
bin schon da, Gunwyn, meine Liebe, ich bin schon da.«
Helderim war in aufrichtiger Sorge, als auf seinen Ruf hin zwischen dem
Stoff zwei zierliche Füße erschienen, die hilflos in der Luft strampelten und
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