Nach dem Essen begab sich Chong Ng in seine Räume und bereitete alles für das nächtliche Unterfangen vor. Dann legte er sich hin, entspannte sich und programmierte seinen Körper zu einer bestimmten Zeit aufzuwachen. Wenn er Kee Hong sagte, dass er nachts noch etwas vorhatte, störte sie ihn nicht mehr. Er hatte dieses Ritual schon viele Male vollzogen, aber heute viel es ihm ein wenig schwerer als sonst einzuschlafen. Schon vor Jahren hatte er sich selbst die Fähigkeit antrainiert, im Traum bereits alle Abläufe vorab durchzuspielen, wie bei einer Probe vor dem großen Auftritt. Genau zur richtigen Zeit öffnete er die Augen, und war sofort hellwach. Er zog seine Beinkleider und Jacke aus mitternachtsblauer Seide an. Eine Maske aus demselben Material, sowie einen großen zusammengefalteten Beutel schob er in seine Innentasche. Einen Gürtel mit Werkzeugen und anderen zweckdienlichen Utensilien, band er sich unter der Jacke um den Bauch. Alle Bewegungen verrichtete er im Dunkeln, die Lage der Gegenstände und Sachen, sowie alle nötigen Handgriffe, kannte er auswendig. Es war ungefähr halb zwei Uhr nachts, als Chong Ng lautlos das Haus verließ, nicht ahnend, dass seine Großmutter noch wach im Bett lag, beunruhigt durch eine böse Vorahnung.
Die Straßen waren um diese Zeit menschenleer, alle waren daran gewöhnt, früh aufzustehen und begaben sich deshalb entsprechend zeitig zu Bett. Chong Ng bewegte sich schnell und zielsicher durch die Viertel. Aus Erfahrung wusste er, dass um zwei Uhr nachts die Müdigkeit der Wachen und damit auch ihre Unaufmerksamkeit, am Größten waren. Kurz vor diesem Zeitpunkt erreichte er die Orchard Road, ungefähr auf der Höhe des Tee Hauses. Dort war alles ruhig und dunkel. Die Gaslaternen warfen ihren flackernden Lichtschein auf die Strasse und ließen seinen Schatten einen bizarren Tanz vollführen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite schien auch alles ruhig zu sein. Er spähte noch einmal zu besagtem Fenster und kniff dabei die Augen leicht zusammen. Der Spalt schien tatsächlich noch da zu sein. Um ganz sicher zu gehen, musste er sich die Lage vor Ort ansehen. Von der Straßenseite her war ein Eindringen auf das Grundstück zu riskant. Er wollte es von der Rückseite versuchen. Die Lage hatte Chong Ng schon vor langer Zeit ausgekundschaftet. Das entsprechend angrenzende Haus war unbewacht und die Strasse davor ohne Beleuchtung. Die Mauer, die beide Grundstücke voneinander trennte, war auch nicht allzu hoch. Er lief die Orchard Road noch ein wenig hinunter, bis zur nächsten gegenüberliegenden Seitenstrasse und überquerte sie dann erst. Danach ging er im Karret bis er am Ziel war. Er vergewisserte sich noch mal kurz, dass niemand zu sehen war, holte seine Maske aus der Innentasche und band sie sich um. Dann sprang er auf die mannshohe Mauer, zog sich in einer fließenden Bewegung nach oben und glitt auf der anderen Seite lautlos herunter. Das Grundstück durchmaß er mit eiligen Schritten. Das darauf befindliche Haus war unbeleuchtet, kein Lauf war zu hören. Schon hatte Chong Ng die Trennmauer erreicht. Er überwand sie genauso geschickt, wie das erste Hindernis. Ab jetzt galt es äußerst vorsichtig zu agieren. Auf dem Grundstück standen ein paar Büsche und Bäume, die ihm Schutz boten. Langsam und vorsichtig schlich er sich an das Haus heran. Etwas entfernt waren Stimmen zu hören. Im Wachhäuschen brannte Licht. Wie erwartet, waren die beiden Wächter nicht mehr ganz so munter und hatten beschlossen sich einen starken, grünen Tee zu brauen. Der eine hantierte gerade im Wachhäuschen, während der andere eigentlich ein waches Auge auf die Umgebung haben sollte. Er zog es aber vor ein kleines Schwätzchen mit seinem Kollegen zu halten. Umso besser für Chong Ng. Er erhob sich aus der Hocke hinter einem Busch, lief zur Hauswand hinüber und kletterte geschmeidig an der Fassade empor. Er hatte einen durchtrainierten, sehnigen Körper und kam schnell voran, ohne außer Atem zu geraten. Im vierten Stockwerk angekommen, blickte er nach unten. Die beiden Wachen hatten sich auf einen Hocker gesetzt und schlürften ihren Tee. Er befand sich außerhalb ihres Sichtfeldes und wenn er hier keinen allzu großen Lärm veranstaltete, würden sie niemals nach oben in seine Richtung blicken.
Auf einem eingelassenen Querbalken balancierte er auf Zehenspitzen entlang bis zum äußersten Fenster. Der Spalt war nur wenige Zentimeter breit. Mit der einen Hand hielt er sich am Sims fest, mit der anderen zog er ein kleines Fläschchen Öl aus seinem Gürtel. Fehlte gerade noch, dass die Scharniere des Fensterladens knarrten, so kurz vor dem Ziel. Er goss jeweils einen Tropfen auf das obere und untere Scharnier und ließ das Ölfläschchen dann wieder in seinem Gürtel verschwinden. Es war soweit, er stand kurz davor, seinen lang ersehnten Traum zu verwirklichen. Chong Ng zögerte kurz, eine leise Stimme in seinem Hinterkopf wisperte ihm die Warnung zu, dass dies alles viel zu leicht ging. Aber er beschloss sie zu ignorieren, diese Gelegenheit war einmalig und schließlich konnte auch in so einem Haus jemandem mal ein kleiner Fehler unterlaufen. Mit zwei Fingern zog er am Fensterladen und schwang ihn auf. Dann stemmte er sich hoch, stützte sich mit den Knien kurz auf dem Sims ab und war eine Sekunde später im Haus. Sofort schloss er den Fensterladen. Aus seinem Gürtel zog er ein etwa handflächengroßes Utensil, dessen Verwendungszweck auf den ersten Blick nicht erkennbar war. Ein kleiner metallener Ölbehälter mit einem Docht und einem kleinen Justierrädchen zum herauf- und herunterdrehen desselben. Auf der Oberseite befand sich, ganz nahe am Docht, eine kleine aufgeraute Walze, sowie eine Halterung mit einem winzigen Feuerstein. Der Docht führte in einen dünnen, nach einigen Zentimetern im 90 Grad Winkel gebogenen, Metallzylinder. Dieser hatte, auf der Höhe der Krümmung, an der geschlossenen Seite einen kleinen Hohlspiegel, sowie an der Oberseite der gekrümmten Hälfte ein paar Luftschlitze eingestanzt. Über den kleinen Luftschlitzen war, in einem Winkel von etwa 45 Grad, nochmals ein abgerundeter, metallener Hohlspiegel mit dem Zylinder verbunden. Es war seine eigene Erfindung und er hatte sie selber zusammengebaut. Zweck der Konstruktion war es, den Lichtschein der Flamme abzuschirmen und nur in eine bestimmte Richtung zu lenken, also einen Lichtstrahl zu erzeugen. Die kleine Walze war auch zur Hälfte vom Zylinder abgedeckt. Wenn man sie schnell drehte, rief die Reibung am Feuerstein einen Funken hervor, der den ölgetränkten Docht entzündete. Nach einigen Versuchen gelang es Chong Ng und eine kleine Flamme schoss den Metallzylinder empor. Über das kleine Rädchen justierte er die Länge des Dochtes und damit die Größe der Flamme. Der stockfinstere Raum erhellte sich nur ein klein wenig und ein dünner Lichtfinger durchschnitt die Dunkelheit, wo immer er die Öffnung des Zylinders mit seiner Hand hinlenkte. Der Raum war nicht besonders groß und diente wohl als Archiv für Rechnungen, Aufträge und Bestellungen. An den Wänden und im Raum verteilt befanden sich hohe Regale, gefüllt mit Papierstapeln und Schriftrollen. Seiner Meinung nach müsste sich der Safe in irgendeinem Raum hier auf diesem Stockwerk befinden. Er glitt zwischen den Regalen hindurch zur Tür und öffnete sie. Er musste nicht damit rechnen, hier irgendjemandem zu begegnen, denn die Kaufmannsfamilie residierte in einem luxuriösen Anwesen in der Scotts Road. Entsprechend sorglos konnte er sich durch die Zimmer und Flure bewegen. Im ersten und zweiten Stock wurden die Waren ausgestellt. Der dritte Stock diente als Lager und der vierte war für die Administration bestimmt. Der Safe war praktischerweise bei den Buchhaltern untergebracht, manchmal aber auch im Büro des Kaufmanns selbst. Er wandte sich zunächst nach rechts, im ersten oder zweiten Raum nach dem Archiv sollte die Buchhaltung untergebracht sein. Bei der zweiten Tür hatte er Glück. Im Zimmer verteilt standen mehrere Stehpulte, mit dicken Folianten darauf, dazu auf der flachen Oberkante Tintenfässchen, sowie Kalligraphie Pinsel. Er durchschritt den Raum bis zur Mitte und leuchtete mit seiner Richtstrahllampe, wie er das umgebaute Taschenfeuerzeug nannte, in alle Ecken. Es war kein Safe zu entdecken. Nun gut, blieb noch das Kaufmannsbüro. Das sollte ein zentrales, großzügig angelegtes Office an der Nordseite sein. Er ging zurück auf den Flur und wandte sich nach links. Am Ende des Ganges angekommen, bog er nach rechts um die Ecke. In der Mitte des Gebäudes war das Treppenhaus angelegt. Jetzt stand Chong Ng ungefähr im Zentrum, ihm gegenüber eine große, zweiflügelige Tür mit Rundbogen. Die nächsten beiden Türen, rechts und links davon, lagen jeweils einige Meter entfernt. Das musste es sein. Er drückte die Türklinke hinunter und trat ein. Der Raum war deutlich größer, als die anderen zuvor. Aber irgendetwas hier war anders. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn. Er hob die Hand mit seiner Lampe, wobei der wandernde Lichtstrahl kurz die Umrisse einer Gestalt streifte. Er war wie erstarrt. „Eine Falle!“, schoss es ihm durch den Kopf. Nur einen Augenblick später wurden mehrere große Öllampen entzündet, die den Raum beinahe taghell erleuchteten. Chong Ng war für einige Sekunden wie geblendet.
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