Langsam wurde es Zeit zu gehen, er wollte sich nicht zu lange in dem Teehaus aufhalten. Noch ein letztes Mal blickte er sehnsüchtig zu dem Prachtbau auf der anderen Straßenseite und wollte sich gerade erheben, als ihm etwas auffiel. Alle Fensterläden in den oberen Stockwerken waren bereits geschlossen, bis auf eines. Es war in dem schwachen, flackernden Licht der Gaslaternen kaum auszumachen, doch sein geübtes Auge erkannte im vierten Stock an der Nordostseite eine leichte Öffnung des letzten Fensters. Er sah kurz weg um nicht aufzufallen und vergewisserte sich dann nochmals für eine Sekunde beim Aufstehen. Tatsächlich, da war ein Spalt! Konnte das möglich sein, hatte er wirklich die Schwachstelle gefunden, nach der er so lange suchte? Äußerlich ruhig, verließ er das Teehaus mit klopfendem Herzen. So eine Gelegenheit bekam er nie wieder. Aber es bestand immer noch die Möglichkeit, dass der Fehler entdeckt und korrigiert wurde. Er würde sich zu später Stunde noch einmal vergewissern. Dies versprach eine aufregende Nacht zu werden, vielleicht die aufregendste seines bisherigen Lebens.
Unten an der Straße angekommen, wandte er sich nach links und steuerte eine senkrecht auf die Orchard Road zulaufende Seitenstraße an. Jetzt nach einem Rikschafahrer zu winken, machte wenig Sinn, da inzwischen die Nachfrage das Angebot bei weitem überstieg und der Verkehr nur noch zähflüssig vorankam. Chong Ng zog es vor, zu Fuß nach Hause zurückzukehren. Er wollte aber erst noch kurz bei seinem Laden vorbeisehen, ob vielleicht ein neuer Auftrag eingegangen war. Im leichten Laufschritt bewegte er sich durch die Straßen. Für einen Mann seines Standes nicht unbedingt ziemlich, doch das war ihm egal, denn so brauchte er nur ca. 15 Minuten bis zu seinem Ziel. Nur niedere Angestellte, Dienstboten und einfache Arbeiter liefen. Wer etwas auf sich hielt, fuhr mit der Rikscha oder bewegte sich zumindest gemessenen Schrittes, in würdevoller Haltung, durch die Gegend. Die wirklich reichen Leute ließen sich in einer Sänfte tragen, mit vorauseilenden Dienern, die den Weg frei machten und des Nächtens mit Laternen für ausreichend Helligkeit sorgten. Nicht das noch einer der Sänftenträger über irgendwelchen Unrat auf der Straße stolperte und das Gleichgewicht verlor. Eine auf dem Pflaster entlangschrammende Sänftenecke, oder gar ein dadurch verursachtes Herauspurzeln ihres wertvollen Inhalts, würde für einen spontanen Heiterkeitsausbruch der Umstehenden sorgen, mit der Folge des Gesichtsverlusts für den verbeulten Passagier.
Mit solcherlei Problemen musste sich Chong Ng Gott sei Dank nicht herumschlagen, oder zumindest noch nicht. Bei seinem Laden angekommen entriegelte er die Tür und schob sie auf. Er blickte kurz auf den Boden, zwei Zettel lagen dort. Er hob sie auf und überflog die Zeilen. Das silbrige Licht des Halbmondes reichte dazu gerade aus. Zwei Aufträge, nicht besonders schwer zu erledigen. Darum würde er sich morgen früh kümmern. Chong Ng verfügte nicht über eigene Angestellte. Da er keine regelmäßige Laufkundschaft hatte, würde sich das bei ihm nicht lohnen. Wenn er nicht anwesend war, schoben seine Auftraggeber einfach Zettel mit entsprechenden Anweisungen durch einen Türschlitz. Für den Warentransport hatte er eine kleine Auswahl an Tagelöhnern zur Hand, die er kurzfristig anheuern konnte. Alles fleißige, zuverlässige Leute, die er immer gut bezahlte. Sein Shophouse bestand aus Erdgeschoß und Obergeschoß. Da er manchmal kurzzeitig beide Räume zur Zwischenlagerung brauchte, wohnte er hier nicht. Nur eine Schlafpritsche und eine kleine Kochstelle in der Nähe des Eingangs ließen darauf schließen, dass er hier manchmal die Nacht zubrachte. Ab und an kam es vor, dass er eine wertvolle Ladung erst am nächsten Tag ausliefern konnte, dann kümmerte er sich persönlich um die Bewachung. Da es hier weiter nichts zu tun gab, verschloss er die Tür und machte sich auf den Heimweg.
Sein Wohnhaus lag nur etwa 10 Minuten entfernt, wenn man eine zügige Gangart vorlegte. Außer ihm lebte noch seine Großmutter Kee Hong dort. Der Rest seiner Familie war entweder verstorben, oder über die Welt verstreut. Eine Tante in Shanghai, zusammen mit seiner jüngeren Schwester, ein Onkel in San Francisco, mit seinen Cousinen und seinem kleinen Bruder, sowie einige Cousins in New York. Im Haushalt eines Händlers wohnten normalerweise einige Diener, Köche und Dienstboten. Kee Hong bestand jedoch darauf, dass Geld hierfür lieber zu sparen und alle notwendig anfallenden Arbeiten selber zu erledigen. Sie war zwar schon etwas betagt, aber immer noch sehr rüstig und verfügte über einen äußerst scharfen Verstand. Der Zustand des Hauses gab ihr absolut recht. Alles war sauber und gepflegt, die reichlichen Speisen, die sie jeden Abend auftischte, schmeckten köstlich und jeden morgen lag die frische Wäsche, fein säuberlich gefaltet, neben seinem Bett. Er musste, nein durfte, ihr nie auch nur einen Handschlag helfen. Dennoch wollte Chong Ng es ihr zumindest ein wenig einfacher machen, aber jedes Mal, wenn er davon begann nun endlich eine Dienerin einstellen zu wollen, fiel ihm seine Großmutter ins Wort, ob er sie denn jetzt schon ins Grab bringen wolle. An dem Tag, an dem er sie nicht mehr brauche, würde auch ihr Lebenswille schwinden. Dies brachte ihn regelmäßig zum sofortigen verstummen, was Kee Hong nur allzu genau wusste, standen sie sich doch beide sehr nahe. Seine Großmutter hatte ihn praktisch, nach dem frühen Tod seiner Mutter, aufgezogen und er mochte sich ein Leben ohne sie nicht vorstellen.
An Heirat hatte er bisher noch keinen Gedanken verschwendet. Frauen waren doch meistens recht neugierige Wesen und so etwas konnte er sich in seiner Situation nicht leisten. Seine Großmutter wusste zwar grundsätzlich über sein Doppelleben bescheid, aber er erzählte ihr nie irgendwelche Details. Je weniger sie wusste, da waren sie sich beide einig, desto besser. Insgeheim hatte er auch Angst, dass sich bei zwei Frauen im Haushalt, welche sich beide den Rang streitig machten, ein gewisses Aggressionspotential entwickeln könnte, was sich wiederum äußerst negativ auf die von ihm so sehr geschätzte harmonische Atmosphäre auswirken würde. Anders ausgedrückt, wer geht schon gerne heim, mit dem Bild zwei sich ankeifender Drachen vor Augen. Seine Pritsche im Laden, als Alternative, war ihm auf Dauer dann doch ein wenig zu hart. Nein, er würde zumindest so lange warten, bis er genug zusammen hatte, um seine Karriere als Einbrecher an den Nagel zu hängen. Dann würde er sich ein größeres Haus leisten, das selbst für Kee Hong nicht mehr alleine zu pflegen wäre. So groß, dass man sich ohne Mühe aus dem Wege gehen konnte und jede der Damen mit ihrem eigenen Verantwortungsbereich versehen. Nicht das er schon eine bestimmte Frau im Auge hatte, auch hier waren seine Ansprüche so groß, dass ihm noch keine geeignete Kandidatin begegnet war. Wenn ihn mal ein gewisses Verlangen überkam, gab es genügend Orte in der Stadt, wo einem alle Wünsche erfüllt wurden. Er ging jedoch nie zweimal hintereinander in dasselbe Etablissement. Der Inhaber konnte sonst fälschlicherweise der Annahme verfallen, er wäre einer bestimmten Dame besonders zugetan, was sich bei der Preisverhandlung dann deutlich zu seinen Ungunsten auswirken würde. Er hatte zwar durchaus die eine oder andere Favoritin, aber das musste dort ja niemand mitbekommen. Viele Männer, selbst ansonsten hart gesottene Geschäftsleute, waren diesbezüglich äußerst naiv und wurden dementsprechend ausgenommen. Da blieb er lieber indifferent und überließ die Wahl auch ab und an mal dem Zufall.
Daheim angekommen, zog er sich im Eingangsbereich die Schuhe aus und schlüpfte in seine angenehmen Hauspantoffeln. „Chong, bist Du’s?“, rief seine Großmutter aus der Küche. Ihre Stimme klang weder zittrig noch alt, sie hatte einen klaren, fast jugendlichen Tonfall. Das Haus war eingeschossig und hufeisenförmig angelegt, in der Mitte der Eingangsbereich und Salon, auf der Ostseite die Küche, der Wasch- und Hygienebereich, sowie die leer stehenden Räume für die Dienerschaft. Auf der Westseite die Aufenthalts- und Schlafräume von Kee Hong und Chong Ng. In der Mitte war ein kleiner Garten mit einem Fischteich angelegt, begrenzt von einer Mauer, welche das Hufeisen abschloss. Obwohl er bei der Heimkehr nie ein vernehmbares Geräusch machte und auch sonst keinen Laut von sich gab, wusste seine Großmutter stets bescheid, dass er wieder zu Hause war, als könne sie seine Anwesenheit spüren. „Ja, ich bin zurück“, gab er zur Antwort. Er gesellte sich zu ihr in die Küche, sog den Duft der verschiedenen Speisen ein und versuchte den Deckel einer der dampfenden Töpfe ein wenig zu liften. „Autsch!“, entfuhr es ihm. Aber nicht etwa die Berührung des heißen Deckelgriffs ließ ihn schmerzhaft zusammenfahren. Es war der unsanfte Klaps, den seine Großmutter ihm mit den Chopsticks auf seinen Handrücken versetzte. „Finger weg! Das man dir das in deinem Alter immer noch sagen muss“, schimpfte sie. „Ich teste nur Deine Reflexe, Großmütterchen.“ „Na, für Dich reicht es immer noch“, gab sie schlagfertig zurück. „Was hast du dir denn heute feines einfallen lassen?“ „Das wirst Du noch früh genug sehen. Jetzt wasch Dich erst mal und zünde die Lampen im Salon an.“ Er genoss diese kleinen Neckereien vor dem Essen, es war wie eine liebe Gewohnheit, die er nicht missen wollte. Nachdem er gehorsam Kee Hongs Aufträge erledigt hatte, wartete er am Tisch im Salon, bis sie auf einem großen Tablett die dampfenden Speisen herein trug. Sie setzte das schwere Tablett am Tischrand ab und schob es in dessen Mitte. Dann nahm sie die Deckel von den kleinen Tiegeln und Schalen und setze sich. Es gab seine geliebte Won Ton Suppe, kurz gebratenes rotes Schweinefleisch, verschiedene Gemüse und natürlich Reis. Ein leises Klirren war zu vernehmen, als sich beide ihre Schalen füllten und dabei mit den Essstäbchen ans Porzellan stießen. „Heute Nacht muss ich noch mal aus dem Haus“, gab Chong Ng kauend von sich. „Ist recht.“ Seine Großmutter betrachtete ihn kurz aus den Augenwinkeln. Sie erwartete keine weiteren Ausführungen. Ihr war klar, dass es sich um keinen Nachtspaziergang handelte, deshalb machte sie sich jedes Mal ein wenig sorgen, auch wenn sie das ihm gegenüber niemals zugeben würde. Ihre gemeinsamen Abendessen verliefen meist recht schweigsam, sie brauchten sich nicht viel zu sagen, ein jeder genoss die Anwesenheit des Anderen.
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