„Versuchen Sie nicht von Ihrer Verantwortung abzulenken“, drohte Fromentin. „Sie waren es doch gewesen, Madame Anke, die mich angerufen und über Proben, die bei Ihnen gemessen werden sollen, geredet hat! Das war nur ein Vorwand gewesen! Inzwischen haben Sie sich die Proben über Sandrine Martin beschafft! Das ist doch der Beweis, dass Sie von der Sache wussten!“
In diesem Moment bedauerte Anke Barkowski-Gertenbauer zutiefst, jemals mit Eugène Fromentin gesprochen zu haben. Malus würde ihr diese Eigenmächtigkeit nicht verzeihen und ihr bei einer Klage aus Paris die alleinige Verantwortung aufbürden. Ferdinand Prause konnte sich ins Fäustchen lachen: Anke, die Streberin! Das hatte sie nun von ihrem wichtigtuerischen Gehabe. Während er beim Frühstück seine Witzchen machte und ansonsten nur zielstrebig auf seine Verbeamtung hinarbeitete, hatte die ehrgeizige Kollegin sich zu weit aus dem Fenster gelehnt und war, plumps, hinausgefallen!
Diese Gedanken schwirrten Anke Barkowski durch den Kopf wie lästige Mücken, während sie, den Hörer am Ohr, Fromentins gebieterische Stimme vernahm. Sie versprach, sich umgehend um die Angelegenheit zu kümmern und ihn so bald wie möglich zurückzurufen. Fromentin willigte schließlich ein. Allerdings nur unter der Bedingung, dass in Kürze eine zufriedenstellende Lösung gefunden würde, widrigenfalls würde die Universität Anzeige erstatten müssen.
Als sie aufgelegt hatte, fühlte Anke Barkowski wie ihr Herz laut pochte. In ihrem Büro lief sie unruhig auf und ab und überlegte, wie sie aus dieser Patsche herauskommen konnte. Es durfte auf keinen Fall zu einer Anzeige kommen. Leo Schneider anzurufen, war eine Möglichkeit, aber wie würde der reagieren? Sie kannte ihn zu wenig, um es einschätzen zu können. Schneider verhielt sich anders, als man es am LEAG gewohnt war. Ein Eigenbrötler, der nur seine Forschungen im Sinn hatte, seine Karriere am Institut schien ihm nicht so wichtig zu sein.
Mit dieser Meinung stand sie in der Fachgruppe nicht allein. Von Anfang an brachten Schneider und seine Assistentin Ausreden hervor, um möglichst selten am Gruppenfrühstück teilnehmen zu müssen. Prause und Malus waren nur am Lästern, noch mehr, seitdem die Französin bei Schneider war. Schneider und sein Harem hieß es, und Prause machte schlüpfrige Anspielungen, was Schneider und die beiden Frauen betraf.
Aber vielleicht wusste Schneider auch nichts von den Präparaten, die Sandrine Martin aus der Universität entwendet hatte? Vielleicht war sie nur nach Berlin gekommen, um hier allein und ungestört mit den patentierten Substanzen aus der Universität arbeiten zu können. Vielleicht hatte sie sogar vor, diese zu Geld zu machen und an den Meistbietenden zu verkaufen? Was war dann?
Der nächstliegende Schritt war, Sandrine Martin direkt auf die Sache anzusprechen. Als Gastwissenschaftlerin hatte sie in der Fachgruppe ohnehin nichts zu sagen. Wenn Sandrine Martin nicht kooperierte, würden Anke Barkowski ein paar Minuten genügen, um Bernhard Malus zu bewegen, den Vertrag mit der Französin fristlos zu kündigen. Ein Kündigungsgrund, eine Pflichtverletzung, eine Formalie fand sich immer. Malus käme das vielleicht sogar gelegen. Seine Erwartung, er könnte aus der Zusammenarbeit zwischen Schneider und der Martin Nutzen ziehen, hatte sich bisher nicht erfüllt.
Gedacht, getan, sagte sich Anke Barkowski. Entweder schickte Frau Martin die gestohlenen Proben sofort zurück oder sie musste das LEAG sofort verlassen. Fromentin konnte dann machen, was er wollte. Stichfeste Beweise gegen sie hatte er nicht, schließlich hatte sie ihm ja nur am Telefon erzählt, was sie aus Sandrine Martins Vortrag vor einem halben Jahr entnommen hatte.
18. Berlin-Dahlem, 26. Juni 1991
Sandrine war noch eine Spur blasser als gewöhnlich, als sie sich mittags mit Leo auf die Stufen vor der Tür des rosafarbenen Laborgebäudes setzte. Sie zog eine Packung Zigaretten aus ihrer Kitteltasche und steckte sich eine an. Der böige, warme Sommerwind wehte Spuren von Rauch und Asche in Leos Gesicht und er kniff die Augen zu. Sandrine schien das nicht wahrzunehmen. Ihr Gesicht war verschlossen und Leo spürte deutlich, dass ihr etwas auf der Seele lag.
Inzwischen kannte er sie soweit, um zu wissen, wann es besser war abzuwarten, bis Sandrine von sich aus reden wollte. Wenn sie es dann überhaupt tat! Bernadette war zum Glück gerade in der Kantine. Wenn sie hier säße, würde sie drauflos zwitschern wie ein Vogel. Umso mehr würde sich Sandrine in dumpfes Schweigen und in Rauch hüllen. Solange, bis sie abrupt aufstehen und ohne ein Wort ins Labor zurückgehen würde. Sandrine schwieg weiter, rauchte, beharrlich.
Leo wollte nun doch nicht länger warten und stellte eine unverfängliche Frage: „Hast du mit deinen Proben schon Daten aus der Massenspektrometrie bekommen?“
Sandrine nickte zweimal und starrte weiter vor sich hin.
„Gibt es etwa Probleme mit den Leuten, bei denen das LC-MS/MS Gerät steht? “
Sandrine schüttelte den Kopf und zog an ihrer Zigarette.
Leo zuckte ratlos mit den Schultern, offensichtlich hatte Sandrine tatsächlich keine Lust zum Reden.
„Es gibt Probleme mit anderen Leuten!“, sagte Sandrine plötzlich.
„Was?“ Leo war überrascht. „Wer denn? Welche Leute meinst du?“
„Viele. Fromentin und Anke Barkowski. Et … le cochon. “
Leo sah sie an, ohne verstanden zu haben. „ Cochon ? Von wem sprichst du?“
„ The pig ! Prause!“ Sandrine drückte ihre Zigarette heftig auf einer der Betonstufen aus, um sich gleich darauf eine Neue anzuzünden.
„Was ist denn passiert?“, fragte Leo.
„Anke hat mich gestern angerufen und mich in ihr Büro gebeten. Sie sagte, es sei dringend. Ich wollte dich dabeihaben, ich hatte ein komisches Gefühl, aber sie bestand darauf, mit mir nur unter vier Augen zu sprechen.“
„Und?“
„Fromentin muss sie angerufen haben. Ich weiß nicht, wie er auf ihre Nummer gekommen ist. Er hat behauptet, ich hätte patentierte Substanzen aus der Uni gestohlen und ins LEAG geschickt. Er hat mit einer Klage gedroht, wenn wir die Substanzen nicht sofort zurückschicken.“
„Das ist doch dummes Zeug!“
„Leo, Fromentin meint die Proben, die ich in der Normandie gesammelt und vor ihm versteckt hatte! Er sagt das nicht offen, aber er muss ziemliche Angst haben, dass wir in den Proben etwas finden und er die Konsequenzen dafür ausbaden muss.“
„Du meinst Patulin? Welche Konsequenzen hätte das denn für ihn?“
„Du weißt doch, Fromentin hatte diese Untersuchungen ursprünglich selbst veranlasst. Es war seine Idee; die Daten aus dem Krebsregister haben ihn darauf gebracht. Aber einflussreiche Leute, denen die Ergebnisse nicht gefallen, müssen ihm gedroht haben, so dass er mir weitere Arbeiten an den Proben verboten hat.“
„Und was hast du Anke Barkowski dazu gesagt?“
„Dass ich nichts von patentierten Substanzen wüsste und auch keine verschickt hätte!“
„Das stimmt doch auch!“
„Sie hat sich daraufhin furchtbar aufgeregt und gesagt, die Universität wollte das LEAG verklagen und ich würde sofort entlassen, wenn ich die Proben nicht sofort zurückschickte!“
Leo stieß hörbar die Luft aus. „Und dann?“
„Ich sagte ihr noch einmal, das wäre ein Irrtum. Ich hätte keine patentierten Substanzen aus der Universität und damit basta!“
Sandrine fing an, an ihren Fingernägeln zu knabbern. Ihre Hand, in der sie die Zigarette hielt, zitterte. Der blaue Rauch kräuselte sich in der Luft. Leo wartete, bis sie von allein weitersprach.
„Daraufhin sagte Anke: Gut, wenn Sie es unbedingt so haben wollen! Das könnte man ja leicht nachprüfen. Wenn die Substanzen aus Paris mit dem Kurierdienst ans LEAG verschickt worden waren, müsste die Empfangsbestätigung dafür in der Verwaltung vorliegen. Dann würde man ja sehen, wer da unterschrieben hat! Aber dann wäre es zu spät für mich. Dann würde das LEAG die Angelegenheit der Polizei übergeben.“
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