Als Christine nach Issy-les Moulineaux zog, hatte sich die Stadt längst von einem Industriegebiet im kommunistisch-roten Gürtel um Paris zu einer modernen Dienstleistungsmetropole gewandelt. Inzwischen waren hier Firmen aus der IT-Branche und Medienunternehmen wie AFT-France zu Hause. Mit dem Rückgang der Schwerindustrie war auch die Wählerschaft der kommunistischen Partei dahingeschmolzen und einem mehr bürgerlichen Milieu gewichen.
Vor einem Monat hatte Christine ihre neu ausgebaute Dachgeschosswohnung bezogen. Die Miete dafür hätte sie sich von dem Gehalt, das sie in Berlin bezogen hatte, nicht leisten können. Mit ihrem Aufstieg bei AFT in Frankreich hatte sich auch ihr Einkommen deutlich angehoben. Inzwischen war es vier Wochen her, dass sie hier lebte. Noch immer konnte sie sich an dem überwältigenden Panorama, das der Blick über die Dächer von Issy und der nahe gelegenen französischen Hauptstadt bot, nicht sattsehen.
Von ihrer Dachterrasse sah sie über die nahe gelegene, sich in Windungen dahin schlängelnde Seine bis zu den Parkanlagen des Bois de Boulogne . Zwischen ihrer Wohnung und der mitten in Paris gelegenen Kathedrale Notre Dame waren es nur sechs Kilometer. Von der ein paar Schritte entfernten Metrostation Mairie d’Issy gelangte sie in einer halben Stunde ins Zentrum von Paris.
Um sich mit ihrer neuen Umgebung und mit ihrer Arbeit in Frankreich vertraut zu machen, hatte Christine bereits verschiedene Orte im Großraum von Paris aufgesucht. Auf ihren Exkursionen war sie von Bernard Chatain, dem Leiter der AFT-Kulturredaktion, begleitet worden. Bernard Chatain, knapp drei Jahre älter als Christine, kam von einer der Grandes Écoles , der Eliteschulen Frankreichs und stand am Anfang einer vielversprechenden Karriere.
Christine ließ ihren Blick vom Geländer ihrer Dachterrasse zurück in ihre Wohnung schweifen. Mit Leo hätte sie hier nicht leben können, dafür gab es zu wenig Platz. Sie hatten es in Berlin schon nicht fertiggebracht, in viel größeren Wohnungen zusammenzuleben.
Der Gedanke an Leo versetzte ihr einen Stich. In den vier Wochen, seitdem sie sich das letzte Mal gesehen hatten, hatten sie nur zweimal miteinander telefoniert. Mit dem räumlichen Abstand war ihnen auch die Sprache noch mehr abhandengekommen. Zumindest wenn es um ihre Beziehung ging. Wenn sie miteinander telefonierten, redeten sie über Bereiche ihres Lebens, die gefühlsmäßig gefahrlos zu durchwandern waren. Leo erzählte von Sandrine Martin, die als Gastwissenschaftlerin an sein Institut gekommen war, um dort ihre Arbeiten über Pilzgifte in Cidre und Calvados weiterzuführen.
Christine erinnerte sich noch gut an Sandrine und an den Eindruck, den die scheue, attraktive Französin bei ihr hinterlassen hatte. Sie dachte an ihre Reportage in der Normandie und an den Generalrat Leroy, der sie auf die Spur von Sandrine gebracht hatte. So lief das im Leben. Scheinbare Zufälle reihten sich aneinander und ergaben in der Rückschau ein Ganzes, das dann einen Sinn machte.
Christine hatte Leo begeistert von ihrer neuen Arbeit und ihrem Team erzählt, zwei Frauen und einem Mann, mit dem sie ihre Reportagen viel besser durchführen könnte. Das nächste große Projekt war bereits in Planung. Eine Reportage mit dem Titel „Auf den Spuren von Jeanne d’Arc.“ Sie wollte dafür verschiedene Orte in Nordfrankreich besuchen und zum Abschluss die Stadt Rouen , in der Jeanne d’Arc im Jahre 1431 zum Tode verurteilt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden war.
Aus guten Gründen hatte Christine nicht darüber gesprochen, dass ihr Bernard Chatain nicht nur als Chef, sondern auch als Mann gut gefiel. Bernard hatte sie nach einem langen Arbeitstag zum Abendessen in das weltbekannte Restaurant La Tour d’Argent eingeladen. Das Restaurant lag im obersten Stock eines Altbaus mit Blick auf die Seine und Notre Dame . Es war ein stimmungsvoller Abend gewesen. Bernard war sehr kultiviert und trotzdem witzig, ein charmanter Gastgeber. Gerade weil Bernard überhaupt nicht den Anschein gab, als wolle er die Situation für sich ausnutzen, weckte er den Gedanken in Christine, dass daraus mehr werden könnte.
Es hatte keinen Sinn, Leo mit dieser Geschichte zu beunruhigen, zumindest nicht zu diesem Zeitpunkt. Sie hätte damit auch gegen eine unausgesprochene Abmachung verstoßen, die zwischen ihr und Leo bestand; ihre eigentlich schon vollzogene Trennung nicht durch Verletzung der Gefühle des anderen deutlich zu machen. Von Leo hörte sie ja auch nichts darüber, ob sein Verhältnis zu Sandrine Martin mehr war, als nur ein gemeinsames Abarbeiten von Laborprotokollen.
17. Berlin-Dahlem, 25. Juni 1991
Nachdem sie den Telefonhörer abgenommen hatte und die Stimme des Dekans von der Pariser Universität vernahm, war Anke Barkowski zuerst überrascht und fühlte sich dann geschmeichelt. Ihr Anruf bei ihm lag schon ein halbes Jahr zurück. Damals hatte sie den Eindruck gewonnen, als hätte der Professor sich nur aus Höflichkeit mit ihr unterhalten und sie danach gleich wieder vergessen.
Aber so konnte man sich täuschen. In diesem Augenblick sah sich Anke Barkowski-Gertenbauer schon als Mitglied einer Delegation des LEAG auf der Reise nach Paris. Warum hätte sich Professor Fromentin sonst wieder bei ihr gemeldet? Das LEAG würde nicht umhinkommen, sie dafür zu benennen, ihr Englisch und ihre fachliche Kompetenz übertrafen die eines Ferdinand Prause bei weitem. Von Malus wusste sie, dass ihn Dienstreisen, die wissenschaftlichen Charakter hatten, nicht interessierten.
Doch je länger Eugène Fromentin redete, desto mehr wechselte ihre anfängliche Begeisterung in Bestürzung. Das angebotene LC-MS/MS Gerät hatte ihn nie interessiert. Stattdessen fragte er, ob Sandrine Martin in ihrer Fachgruppe am LEAG arbeitete.
„Aber das müssten Sie doch am besten wissen, Eugène?“, antwortete die durch seinen Ton verunsicherte Anke Barkowski.
Die Stimme des Dekans sank daraufhin noch um ein paar Minusgrade. Plötzlich war die Rede von patentierten Substanzen aus der Fakultät, die Sandrine Martin widerrechtlich an sich genommen hatte. Außerdem gäbe es Beweise dafür, dass diese Substanzen ohne sein Wissen und Zustimmung im Auftrag des LEAG nach Berlin verschickt worden waren. Ob Madame Anke das bisher noch nicht bewusst gewesen sei?
Anke Barkowski widersprach, indem sie versicherte, nichts von derlei Dingen zu wissen. Aber der Dekan wies sie schroff zurück. „Sie müssen von dieser Sache Kenntnis gehabt haben, sonst hätten Sie mich doch damals nicht wegen des LC-MS/MS Geräts angerufen, Madame ! Damit hat sich das LEAG der Beihilfe zu einer Straftat schuldig gemacht und das kann juristische Konsequenzen haben. Diese Proben müssen der Fakultät umgehend zurückgegeben werden. Ich bestehe darauf! Sie haben kein Recht, damit an Ihrem Institut zu arbeiten!“
Anke Barkowski zuckte zurück, als wäre sie von einer Schlange gebissen worden. Ins Fadenkreuz juristischer Verfolgungen zu geraten, war so ziemlich das Schlimmste, was einem am LEAG widerfahren konnte. Bei jeder Gelegenheit hatte Bernhard Malus seinen Mitarbeitern eingetrichtert, alles zu unterlassen, was juristische Konsequenzen nach sich ziehen könnte. Deshalb durften seine Untergebenen nichts aus eigener Initiative unternehmen, außer wenn es vorher abgesprochen und von ihm gebilligt worden war. Dagegen hatte sie verstoßen, als sie Fromentin leichtfertig das Angebot mit dem LC-MS/MS Gerät gemacht hatte. Jetzt schlug das auf sie zurück. Wenn Malus von ihrem Anruf bei Fromentin und von der Sache mit den Patenten erfuhr, würde er sie dafür allein verantwortlich machen.
Sie zwang sich zur Ruhe, während Fromentin weiter auf sie einredete. Wenn man es genau nahm, was hatte sie denn eigentlich mit Sandrine Martin zu tun? Nichts! Frau Martin arbeitete doch bei Leo Schneider. Von Schneider allerdings hatte der Dekan nichts wissen wollen, als sie dessen Namen in Zusammenhang mit Sandrine Martin erwähnte.
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