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Zwanzig nach zwölf war Lara wieder in ihrem Zimmer. Sie hatte im Wirtshaus gerade die letzten Stühle an die Tische geschoben, als sich wieder alles um sie herum langsam angefangen hatte zu drehen. Sie hatte versucht es aufzuhalten. Sie hatte noch nicht zurückgewollt. In diesem Moment war Amboss mit zwei großen Kisten voller Getränkeflaschen zurückgekommen. Alles eine Sache der Übung und Konzentration hatte er ihr zugerufen, als er Laras verzweifelte Versuche gesehen hatte. Doch es hatte nichts genutzt. Wenigstens hatte sie sich von ihm verabschieden und versprechen können, diesen Abend oder sogar schon am Nachmittag wiederzukommen. Der Grund für Laras Konzentrationsstörung lag darin, dass ihr Bruder unentwegt an ihre Zimmertür klopfte und grölte, dass es Mittagessen gäbe. Sie öffnete gezwungenermaßen ihre Zimmertür, die sie immer abschloss, um wenigstens ein bisschen ungestört sein zu können, und musste sich gleich darauf das Gerede und die Vorwürfe von Stan anhören. Er redete und redete, aber sie verstand nicht, was er sagte und worum es überhaupt ging. Sie versuchte es gar nicht. Wozu auch? Es war ihr einfach egal. Sollte er doch reden und meckern, soviel er wollte. In Gedanken war Lara in Schiva bei Amboss, dem sie sozusagen ihr Herz ausgeschüttet hatte. Ihr Leben hatte auf einmal wieder einen Sinn bekommen. Sie hatte Freunde gefunden, einen Ort, der für sie wie ein zweites, richtiges Zuhause war und ja – ein Geheimnis. Süß und unglaublich kostbar. Sie würde dieses Geheimnis für sich behalten. Nun hatte Lara endlich etwas, das ihr Bruder niemals haben oder ihr wegnehmen konnte. Bei diesem Gedanken fing sie an, zufrieden zu lächeln.
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Wie gelähmt stand sie da. Schon seit einer Stunde. Doch sie konnte und wollte ihren Blick nicht von der Bühne abwenden, auf dem der Sänger ein trauriges Lied nach dem anderen sang. Alle seine Lieder handelten von unerfüllter Liebe und von der Sehnsucht nach der vollkommenen, einzig wahren Liebe. Lara hatte noch nie jemanden live so singen hören! Er sang so voller Gefühl, so voller Leidenschaft. Sie schätzte den Sänger auf etwa zwanzig Jahre. Seine äußere Erscheinung war verwegen und faszinierend anziehend. Das lag nicht nur an seinen durchlöcherten, dunkelblauen Jeans, seinem weißen, eng anliegenden, ärmellosen T-Shirt und seiner schwarzen, abgenutzten Weste mit eisernen Zacken an den Schultern. Vielleicht war es die Art, wie er das Mikro hielt oder wie ihm sein hellbraunes, fast schulterlanges Haar zart über sein Stirnband fiel, als er sich sanft beim Singen nach vorne beugte, um seine funkelnden Augen zu verbergen. Egal was es war, das Gesamtbild passte und der Gesang ging ihr durch Mark und Bein.
Lara klatschte begeistert am Schluss des Liedes mit den übrigen Gästen. an diesem Abend war das Gasthaus einigermaßen gut besucht. Der nächste Song handelte wie die vorherigen auch von unerfüllter Liebe. Nur schien es Lara, als wäre die Melodie noch trauriger, noch tief gehender, noch ergreifender als die vorherigen. Gerührt schloss sie die Augen und lauschte seiner fesselnden Stimme. So hatte sie sich schon lange nicht mehr gefühlt. Ein warmer Schauer lief ihr über den Rücken. Der Kerl sang wundervoll, was man ihm beim ersten Anblick gar nicht zutraute. Zumindest nicht, dass er Liebeslieder so schön singen konnte. Denn sein Äußeres ließ eher darauf schließen, dass er ein Abenteurer, wenn nicht sogar ein Schlägertyp war. Mit einem Ohrring in Form eines Totenkopfes am rechten Ohr, seinem stoppeligen Bartansatz und seiner Kleidung erinnerte er Lara irgendwie an einen Piraten. Bei diesem kindischen Gedanken musste sie grinsen.
„Na, Ruben scheint dir ja wirklich zu gefallen“, flüsterte ihr Lucie ins Ohr, indem sie eine Hand auf Laras linke Schulter legte.
„W-was? Wer?“
Irritiert drehte sich das Mädchen zu der Kellnerin um, die dicht hinter ihr stand und sie breit angrinste.
„Na, Ruben! Der Süße auf der Bühne! Ich hab doch gesehen, wie du ihn eben lächelnd angesehen hast!“
Bei diesen Worten wurde Lara rot und ihre Wangen begannen verräterisch zu glühen.
„Ich … das ist nicht so wie, also – er singt wirklich gut. Und ich … ähm, das ist alles.“
„Ja ja, klar, du musst mir nichts erklären. Ich wünschte, ich wäre noch einmal so jung und verliebt. Das waren noch Zeiten, sag ich dir.“
Lucie lachte leise. Jetzt war Lara wirklich total verlegen. Der Typ konnte gut singen, das war klar. Das war aber auch alles. Sie hielt nichts von solchen Rowdys, auch wenn dieser wirklich süß aussah. Aber warum auf alles in der Welt wurde sie dann nur so rot?
„Er sieht etwas gefährlich aus“, sagte sie schnell, um von ihrer peinlichen Situation abzulenken. „Außerdem könnte er sich mal rasieren. Er ist überhaupt nicht mein Fall“, fügte sie schnell, vielleicht etwas zu schnell, hinzu. Erstaunt und verwundert starrte die Kellnerin Lara an. Dann lächelte sie wieder und meinte darauf:
„Stimmt, er sieht nicht gerade harmlos aus, ist er auch nicht. Man kann ihn und seine Gruppe als, na ja …“ Lucie zögerte kurz, dann aber fuhr sie fort, „als eine aufgeweckte, nach Abenteuer suchende Gesellschaft einstufen. Aber gefährlich – nein, wirklich nicht!“
Lucie schüttelte lachend ihren Kopf.
„Wir, das heißt Amboss und ich, kennen ihn und seine Kumpels schon ziemlich lange. Manchmal kommen sie in unser Gasthaus, wenn nichts los ist oder sie einfach Bock darauf haben. Er ist echt in Ordnung, Kleines! Kommst du mit zur Bar? Ich hol dir was zu trinken.“
Bevor Lara etwas darauf antworten konnte, drehte sich die Rothaarige schon um und war auf dem Weg zum Tresen, hinter dem Amboss stand und gelangweilt herumhantierte. Ohne Gegenwehr folgte sie Lucie und ließ sich auf einen der hinteren Barhocker nieder. Amboss sah auf und nickte ihr, erfreut sie zu sehen, zu.
„Na, wie?“
„Gut“, sie deutete mit kurzen Blicken auf die Bühne. „Er singt wirklich spitze!“
„Ja, irgendetwas muss dieser Herumtreiber ja können!“, lachte Amboss angeheitert.
„Willst du eine Cola oder was anderes?“, fragte Lucie und stupste den Wirt auffordernd an, da es ihr anscheinend wieder zu lang dauerte.
„Ja, eine Cola wäre super, danke.“
„Kommt sofort, Kleines!“
Mit diesen Worten schob die Frau Amboss beiseite und goss ihr ein Glas ein. Der Wirt wollte sich gerade bei der Kellnerin beschweren, sah dann jedoch ein, dass dies keinen Sinn hätte und wandte sich deswegen wieder an Lara, die den Blick wieder zur besetzten Bühne gleiten ließ.
„Wie sieht es aus, willst du auch?“
„Ich weiß nicht …“ Sie zögerte. Meinte er es ernst? Sie hatte noch nie vor einem Publikum gesungen. Zwar träumte sie immer davon, aber das war doch irgendwie etwas anderes. So gut war sie wirklich nicht.
„Was denn? Du wirst doch nicht Angst haben? Du kannst super singen, Engelchen! Besser als dieser Taugenichts bist du allemal – au!“
Empört stierte er Lucie an, die ihm gerade eine Kopfnuss verpasst hatte.
„Jetzt mach Ruben doch nicht so runter, du eifersüchtiger, dicker Dorfkloß! Wenn hier jemand nicht viel taugt, dann bist das ja wohl du!“
Sie reichte Lara das volle Glas und diese nahm es dankbar an.
„Aber in einem hat er allerdings recht, Kleines. Du singst sehr gut und solltest es wirklich versuchen. Bereuen wirst du es sicher nicht.“
„Ein andermal vielleicht“, versprach sie. „Ich wüsste eh nicht, welches Lied ich jetzt spontan singen sollte“, gab sie ehrlich zu.
„Das rennt dir ja nicht weg“, antwortete Amboss darauf, „ich freue mich schon auf diesen Tag, an dem du auf dieser Bühne stehst und uns mit deiner Stimme verzauberst!“
Lächelnd und abermals etwas verlegen nippte Lara an ihrer Cola. Hoffentlich wurde sie nicht wieder rot. Das war eine Eigenschaft, die sie an sich mehr als nur hasste.
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