Als sie nun ankam, war alles im Wirtshaus still und verlassen. Suchend blickte sie sich um, doch weit und breit war keine Menschenseele zu sehen.
„Hallo? Lucie? Amboss? Ich bin es. Seid ihr da?“
Jedoch bekam Lara keine Antwort. Sollte sie warten, bis sie kamen? Vielleicht waren sie nur kurz aus dem Haus und würden jede Sekunde zurückkommen. Was aber, falls nicht?
„Sie werden bestimmt gleich kommen“, murmelte Lara leise vor sich hin wie ein trotziges, kleines Kind. Ihr war unwohl zumute. Sie war nicht gerne allein, denn das war sie ohnehin meistens. Sie hatte keine Freundinnen, nicht mal gute Kameraden, keinen Freund, einfach niemanden. Das Einzige, was sie hatte, war ihr jüngerer Bruder Stan, der es sich zum Hobby gemacht hatte, sie zu quälen. In Gedanken versunken ging Lara auf die Bühne zu. Es musste ein tolles Gefühl sein, auf der Bühne zu stehen, zu singen und von unzähligen Leuten bewundert zu werden. Sie musste einfach auf die Bühne steigen, es zog sie geradezu magisch an. Sie schaute sich vorher noch einmal kurz um, doch sie war noch immer allein. Vorsichtig kletterte Lara auf die Bühne und fluchte leise vor sich hin, als sie prompt in einen kleinen Splitter trat. Als sie nun so auf der Bühne stand und herunterblickte auf die leeren Tische und Stühle, durchzog ein berauschendes Prickeln ihren Körper. Schnell schloss sie ihre Augen und stellte sich vor, wie sich der Raum langsam füllte, wie immer mehr Menschen in das Gasthaus strömten, um sich die letzten freien Plätze zu ergattern und um sie zu sehen. Sie, Lara, die sonst nicht beachtet wurde. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Es war ein tolles Gefühl, auf der Bühne zu stehen, und langsam, ohne dass sie es selbst bemerkte, fing sie an ihr Lieblingslied „It’s a Heartache“ von Bonnie Tylor zu singen. Alles um sie herum war vergessen. Es zählte nur der Moment. Sie ließ sich einfach von den Wogen des Glücks und ihrer Fantasie treiben. Auch ihre brennenden Augen vermochten sie nicht aufzuhalten.
Als sie den Song zu Ende gesungen hatte und sich die Tränen mit dem Ärmel ihres roten Pullis abwischte, vernahm sie ein lautes Klatschen. Erschrocken schlug Lara die Augen auf. An einem der hinteren Tische saß Amboss, der jetzt aufstand und auf sie zu schlenderte.
„Mädchen, das war wirklich klasse! Du hast echt Talent. Eine Engelsstimme, wirklich wie von einem Engel! Sagenhaft.“
Er reichte Lara seine große Hand und half ihr von der Bühne herunter. Lara lächelte verlegen. Es war ihr etwas peinlich, dass jemand sie so gesehen hatte, voller Gefühl, voller Emotionen – die richtige Lara, die die sich eigentlich nie traute, anderen zu offenbaren. Sie mochte das Gefühl nicht. Am liebsten wäre sie im Erdboden versunken.
„Als ich reinkam, hörte ich deine Stimme. Du singst so – wie soll ich es ausdrücken? Mit ganzem Herzen! Genau, das ist es! Du singst mit ganzem Herzen, bist voll dabei.“
Amboss sah sie begeistert und bewundernd zugleich an. Lara errötete sichtlich unter seinem Blick. Er schien es tatsächlich ernst zu meinen. Er fand sie wirklich gut! Das war eine ganz neue Situation für sie – aber es war irgendwie schön. Sie schluckte.
„Was ist los?“, fragte der Wirt erstaunt, als er ihre Reaktion bemerkte.
„Ich meine das wirklich ernst! Ein Amboss lügt niemals! Das kannst du mir glauben!“, versicherte er ihr eilig und fuchtelte dabei mit seinen großen Händen in der Luft herum wie ein Betrunkener, der seinen Halt verlor. Sie musste leicht grinsen.
„Nein, es ist nur“, begann Lara zögernd zu sprechen, „das hat mir bisher noch niemand gesagt. Ich bin …“
„Was?! Das hat dir noch niemand gesagt?!“, unterbrach der Wirt sie und Empörung klang in seiner Stimme mit. „Was ist mit deiner Familie? Die hat dich doch bestimmt schon singen gehört.“
Lara nickte kurz und blickte, immer noch verlegen von der Begeisterung des Mannes, zu Boden. Sie war sichtlich verwirrt.
„Dafür interessiert sich niemand daheim. Aber das ist nicht so schlimm.“
Der Wirt sah sie durchdringend an und schüttelte nachdenklich seinen Kopf.
„Du kannst mit mir über alles reden, das weißt du ja. Ganz gleich, was es ist, und sag nicht, dass es dir egal ist oder nicht so schlimm. Das kaufe ich dir nicht ab.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, legte Amboss seinen Arm um Laras schmale Schulter und schob sie zum Tresen.
„Nun setz dich mal und erzähl mir, was dir so durch den Kopf geht.“
Auffordernd nickte er ihr zu. Nur einen Augenblick zögerte die Jugendliche, doch dann sah sie ein, dass er recht hatte. Sie musste mit jemanden über ihre Sorgen reden. Deshalb fing sie stockend an zu erzählen, wie die Lage bei ihr zu Hause aussah. Schon nach kurzer Zeit sprudelte einfach alles aus ihr heraus. Sie selbst hatte nicht geahnt, dass so viel so schwer auf ihr lastete. Es tat richtig gut, endlich alles auszusprechen. Es war ein Gefühl der Befreiung, einer Befreiung aus all den Ungerechtigkeiten, aus all ihrer Trauer und ihrer nicht enden wollenden Einsamkeit. Und als sie nun von ihrem Problem, Freunde zu finden, berichtete, stand plötzlich Lucie an der Eingangstür.
„Hey, Kleines, du bist nicht allein – du hast doch uns!“
Lächelnd ging sie auf Lara zu und begrüßte sie mit einer herzlichen Umarmung. „Dass du keine Freunde hast, will ich also nicht mehr hören! Ach, Amboss, bewege mal deinen fetten Hintern in den Keller und hol die Getränke herauf! Das macht sich nicht von allein. Zackig, Dicker.“
Die Augen verdrehend richtete sich der Wirt auf und schnaufte.
„Sag mal, warum machst du jetzt schon wieder so ne Hektik? Es ist doch erst zwölf Uhr vorbei“, raunte er Lucie an, als er kurz auf seine Armbanduhr blickte.
„Weil du immer alles bis zum letzten Drücker aufschiebst!“
„Wenn man noch Zeit hat, muss nicht alles sofort passieren.“
„Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen.“
„Ja ja, jetzt kommste wieder mit den Sprichwörtern. Wie ich das hasse“, gab sich Amboss schließlich geschlagen und stapfte missmutig in den Keller, jedoch nicht ohne dabei seiner Unzufriedenheit lautstark in Worten Ausdruck zu verleihen. Lara beobachtete diese Szene amüsiert. So ging es bei ihr daheim nie zu. Wenn ihre Familie diskutierte, dann endete dies meist in Streit und alle waren so aggressiv. Hier wirkte es eher eingespielt und es hatte fast etwas Harmonisches. Ja, hier war wirklich alles anders. Es war einfach besser, irgendwie …
„Willst du was trinken?“
Sie wurde von Lucie aus ihren Gedanken gerissen.
„Nein, danke, Lucie.“
Die Rothaarige schüttelte besorgt ihren Kopf.
„Du solltest wirklich mehr trinken, das ist nicht gesund. Ich muss kurz noch etwas erledigen. Könntest du bitte die Stühle ordentlich an die Tische schieben? Sei so gut, denn der Dicke hält das ja nicht für nötig!“
Mit diesen Worten eilte Lucie gestresst die Treppen hinauf. Sie hielt jedoch noch mal inne, um sich Lara zuzuwenden.
„Sag mal, was war denn gestern mit dir los? Du warst auf einmal so blass.“
Lara, die angefangen hatte, die ersten Stühle an die Tische zu stellen, lief ein Schauer über den Rücken, als sie an den seltsamen jungen Mann denken musste. Seine schwarzen Augen brannten sich wieder schlagartig in ihr Gedächtnis. Die stille Warnung, die doch so deutlich gewesen war. Jedoch wollte sie das Lucie nicht sagen. Immerhin war sie sich nicht sicher, ob sie sich das Ganze nicht nur eingebildet hatte, denn er war ja spurlos verschwunden gewesen.
„Mir war nur plötzlich schlecht geworden. Keine Ahnung, warum. Tut mir leid.“
„Bist du dir sicher?“, hakte Lucie hartnäckig nach und ließ sie nicht aus den Augen. Lara schluckte. Sie wusste selbst nicht genau, warum, aber irgendetwas in ihr wollte es Lucie nicht erzählen. Lucie betrachtete Lara noch einen Moment misstrauisch, als wüsste sie, dass Lara sie angelogen hatte, nickte ihr dann aber zu und setzte ihren Weg fort.
Читать дальше