1 ...8 9 10 12 13 14 ...18 Bei unserem ersten Gespräch fanden Caro und ich heraus, dass wir am selben Tag geboren wurden. Wie cool! Ich hatte bis dahin noch nie eine Freundin, keinen Freund, kein Kind, gänzlich niemanden, der am selben Tag Geburtstag hat wie ich. Ich glaube zwar nicht komplett an die Astrologie, aber Horoskope lese ich schon mal ganz gerne. Weil ich ja an das Schicksal glaube. Vor Jahren ließ ich mir natürlich auch so ein Lebenshoroskop erstellen mit den verschiedenen Häusern – also den einzelnen Lebensbereichen. Dabei wird geschaut, welches Sternzeichen zum Zeitpunkt deiner Geburt jedes einzelne Haus wie z.B. die Spiritualität, die Liebe, die Kommunikation etc. beherrschte. Sehr interessant muss ich sagen. Der Großteil stimmte. Die positiven Dinge vor allem. Bei den negativen Aspekten konnte ich nicht sehr viele Übereinstimmungen mit mir finden. Aber egal. Caro sagt sowieso, ich sollte positiver sein. Warum also nicht nur die positiven Seiten deines Horoskopes beherzigen. Caro ist klug und zielstrebig. Schneide ich mir doch ein Stück von ihr ab.
Und es kam noch viel besser. Ich wurde am 1. Mai 1979 in Salzburg geboren, Caro wurde am 1. Mai 1979 in Hamburg geboren. Meiner Lieblingsstadt – neben New York, Paris und London. Und obwohl ich kein fitter Typ bin, kenne ich die Kaifu Lodge in Hamburg. Ich bin nicht sportlich, aber hip. Ein Praktikum während meines Studiums an der Fachhochschule verbrachte ich in Hamburg. Schicke Großstadt mit elegantem Flair. Sechs Monate lang – Juhu! Und wo trifft man am besten nette Leute, wenn man neu ist und niemanden kennt? Natürlich im Fitness-Center. Und sind sie schon nicht nett, sind sie zumindest schön. Auch was! Caro freute sich, dass ich ihr Stamm-Fitness-Center in ihrer Heimatstadt kenne. Wir fragten uns, ob wir uns nicht schon mal über den Weg gelaufen sein könnten? Durchaus möglich, meinte ich. Allerdings, warf ich nach einiger Überlegung ein, erinnere ich mich vor allem an gemütliche Stunden in der Sauna, einen ausgelesenen Roman am Fahrrad, eine Regenerations-Runde im Pool und natürlich an die Parties. Da habe ich keine verpasst. Caro auf der anderen Seite war dort Trainerin und permanent am Schwitzen. Sie ist so eine Trainerin, die rumbrüllt und mir Angst macht. Vor ihr und vor mir. Vor meinem nahenden körperlichen Zusammenbruch oder einem echten Kreislauf-Kollaps. Also meide ich Kursstunden generell. Ich wollte ja Leute kennen lernen. Nicht an mein Limit gehen. Ich brauche meine Grenzen nicht auszutesten, um zu wissen, dass es sie gibt.
Caro ließ die Parties aus. Sie hatte ja einen Plan. Sie und ich waren damals zweiundzwanzig. Sie studierte Sport und jobbte nebenher als Trainerin. Sie war auf dem Weg nach oben. Runter auf elf Prozent Fettgehalt, Maximalkraft steigern, perfekte Beherrschung der menschlichen Anatomie. Sie trainierte nach Plan, aß nach Plan, schlief nach Plan. Ganz anders bei mir. Ich schlafe, wenn ich müde bin, auch mal untertags. Ich esse wenn ich Lust habe und das fällt nicht immer mit Hunger zusammen. Und ich trainiere nur, wenn es nicht anders geht und ich meine Kinder, manchmal auch zwei gleichzeitig den Hügel hochziehen muss, damit wir gemeinsam zum hundersten Mal an diesem langen, nicht-enden-wollenden Wintertag runter rodeln können.
Das ist mein Workout. Haushalt und Kinder. Hätte ich niemals gedacht, dass das wirklich fit macht. Tut es aber, denn ich bin nicht unfit. Aber ich habe ein paar Kilo zu viel auf den Rippen. Fällt selbst mir auf und liegt wahrscheinlich daran, dass ich glücklich bin oder sagen wir so – dass ich gerade in keiner größeren Katastrophe drinnen hänge. Caro sagt, ich habe Glück, dass ich kein Frustesser bin. Bin ich tatsächlich nicht. Deswegen auch keine Waage. Als ich mit sechzehn, dem Alter, wo es bei den Mädels meist mit Diäten und Magersuchtswahn losgeht, erfuhr, dass ich das untergeschobene Ei bin, ging zuerst mal die Welt unter. Und wer denkt in solchen Momenten ans Essen? Ich nicht. Mir verging alles. Die Lust aufs Leben, die Lust aufs Atmen und aufs Essen sowieso. Biene hasst alle Fotos aus ihrer Teenager Zeit, weil sie damals so aufgedunsen war. Sie nennt sich selbst „Germknödel“ auf diesen Fotos, doch das ist ziemlich übertrieben. Als ich sie kennenlernte, hatte sie eine Topfigur. Heute weiß ich, dass das die Kinder waren. Die nehmen einen einfach total her. Erst das Stillen und dann die durchwachten Nächte. Heute sieht auch sie wieder gesund und zufrieden aus.
Ich auf der anderen Seite mag meine eigenen Fotos aus dieser Zeit nicht, denn sie zeigen wie unglücklich ich tatsächlich gewesen sein muss. Gott-sei-Dank gibt es das Vergessen. Bin ich froh, dass ich mich nicht mehr genau erinnern kann, wie schrecklich sich das damals alles angefühlt hat. Die Bilder reichen mir, um eine Ahnung zu bekommen, wie es damals um mich stand. Vielleicht ist der Leopold mit seinem Alzheimer sogar gesegnet? Ich wage es nicht auszusprechen. Nicht mal neben Alexander. Sein Vater ist ihm heilig und dessen Krankheit ein Fluch. Da kennt selbst er keinen Zweckoptimismus.
Fotos, die mich im Alter von circa siebzehn Jahren zeigen, demonstrieren ein abgemagertes, eingeschüchtertes Mädchen, in dessen Augen sich vor allem eines widerspiegelte: Angst. Ein schrecklicher Anblick, denn das war ich. Manchmal frage ich mich, wie blind mein Umfeld gewesen sein muss, um nicht zu erkennen, dass etwas grob schief lief mit mir. Ein Erklärungsversuch: mein Papa ist ein Mann und letztendlich unsensibel, meine Schwester war vierzehn und das erste Mal verliebt, meine Mama wusste sowieso Bescheid und versuchte ihre eigene Panik mit aller Kraft zu unterdrücken und mein älterer Bruder maturierte in diesen Monaten und ging danach zum Bundesheer.
Blieb also wenig Aufmerksamkeit für mich und wahrscheinlich war es gut so. Denn sonst wäre viel früher alles aufgeflogen. So konnte ich mich innerlich vorbereiten und abfinden mit der Tatsache wer ich war. Als die Welt für meinen Papa zusammenbrach, war meine schon wieder zusammengeflickt. Ich war für zwei Jahre in Amerika „untergetaucht“ und begann wieder zu leben. Alleine – nur ich, Anna. An der Seite von Menschen, die freundlich waren, mich akzeptierten, mir aber nicht zu nahe kommen konnten. Ich hatte ein sicheres Familiennetz und war nicht alleine. Trotzdem hatte ich Zeit zu verdauen und Verdrängtes langsam anzunehmen. Ich war ich. Daran konnte selbst ich nicht mehr rütteln.
Übrigens: mein Lieblings-Kinderbuch. „Das kleine Ich-bin-ich“ von Mira Lobe. Wer es nicht kennt, obwohl es der absolute Klassiker ist: es geht dabei um ein noch nicht definiertes Wesen, das kleine Ich-bin-ich. Es ist nicht Kuh, nicht Pferd, nicht Fisch und möchte wissen, wer es ist. Es fragt sich so durch Wald und Wiesen und vergleicht sich mit Anderen. Hat den Schwanz vom Fisch, die Ohren vom Hund, die Beine vom Nilpferd. Aber es gleicht niemandem auf Haut und Haar. Traurig und deprimiert streicht es durch die Straßen, bis die Erleuchtung Gestalt annimmt und es erkennt: Ich bin ich. Und wer das nicht weiß ist dumm. Bumm. Mein kleinster Sohn lacht heute jedes Mal, wenn wir das lesen.
Damals in Philadelphia habe ich herausgefunden, dass es eine englische Übersetzung gibt und sie Billy und Joe zum gemeinsamen vierten Geburtstag – die beiden sind ein Zwilling – geschenkt. Suzie war entzückt. Sie kannte das Buch nicht und versuchte sich damals selbst im Schreiben. Keine Kinderbücher sondern Fantasy-Romane. Ich las die Geschichte mindestens hundert Mal mit den Burschen. Für sie, aber vielleicht noch viel dringender für mich.
Denn was ist die Moral von der Geschicht? Jeder ist einzigartig, unvergleichbar und gut, so wie er ist. Wer hätte diese Versicherung notwendiger gehabt als ich? Doch allein die Tatsache, dass es sich dabei um den Kinderbuchklassiker schlechthin handelt, zeigt, dass wir Menschen alle so sind. Unsicher, klein. Und ich bin nicht allein. Wir wollen gut sein, so wie wir sind. Und wir müssen es uns selbst sagen. Vor allem aber unseren Kindern.
Читать дальше