In Salzburg, wo ich aufgewachsen bin, konnte man die Nachbarn schon noch um ein vergessenes Ei fragen. Nein, lassen wir die Ei-Vergleiche, die liegen mir nicht, nehmen wir lieber das nicht gekaufte Packerl Butter für die Sachertorte 1 aus dem Plachutta-Rezept-Buch. Für die braucht man nämlich geschlagene (vorher trennen!) 12 Eier – und so viele leiht dir nicht mal eine gestandene Salzburger-Hausfrau! In Wien war das anders. Da macht dir nicht mal wer die Tür auf. Besonders die, die keinen Späher haben. Die öffnen nur auf Termin, wenn sich jemand angekündigt hat. Auch verständlich – muss man in der Großstadt ja immer mit dem Schlimmsten und den Zeugen Jehova rechnen!
So mussten wir abends, wenn wir zu wenig Milch eingekauft hatten, zur Tanke wandern, um die hungrigen Mägen unserer Zwerge zu füllen. Unpraktisch, aber zumindest musst du dich bei niemandem bedanken. Das hat was.
Gut, vielleicht hätten wir das Verhältnis zu unseren Nachbarn etwas positiver mitgestalten können. Doch ich denke, das hätte nichts gebracht. Wir waren zu jung, zu verspielt, zu wenig frustriert. Für eine gewisse Bösartigkeit musst du definitiv ein gewisses Alter erreicht, ein unerträgliches Maß an Frust überschritten und dann noch die richtigen, beziehungsweise die falschen, Gene haben. Ein schlechter Charakter kommt ja auch nicht von irgendwoher. Im Leben muss man sich auch wirklich alles mühselig erarbeiten.
Vielleicht waren Biene und ich auch nur zu wenig angepasst an den Lebensrhythmus von durchschnittlichen 60-jährigen Großstädtern. Doch warum mussten wir uns ihnen anpassen? Die Erkenntnis kam bald: wir waren in der Minderheit.
Nachdem ich Alexander kennen lernte und schon nach weiteren sechs Monaten bei ihm einzog, weil in Bienes Wohnung einfach zu wenig für Platz für ihn, mich und Leandra war – Biene und ich weinten Rotz und Wasser – kündigte auch sie ihren Mietvertrag und zog zu ihrem neuen Freund. Weg aus unserer Wohnung in der Zirkusstraße 27b/8, in der ich trotz allem eine der besten Zeiten – ganz ehrlich: vielleicht die beste Zeit meines Lebens – hatte. Vermisst hat uns wahrscheinlich keiner. Außer Herr Niedermüller. Da wette ich drauf, denn Bienes Brüste sind groß und schön.
Wir hatten das unglaubliche Glück uns beide gleichzeitig wieder verliebt zu haben – nicht Alexander und ich sondern Biene und ich. Nicht ineinander sondern ich in Alexander und er sich in mich. Biene in Horst und der sich in sie. Der Hang zu Männern mit grässlichen Vornamen ist ihr leider geblieben. Ihr langjähriger Freund vor ihrem Mann Rüdiger hieß Kasper. Um nichts besser. Horst, den sie damals kennenlernte ist aber zum Glück und im Unterschied zu Rüdiger und Kasper ein toller Kerl mit gutem Charakter. Wahrscheinlich ist das so wie bei den kleinen Männern: die haben auch was zu kompensieren – ihre fehlende Größe - und sind meist deswegen besonders lässig. Ein Mann wie Horst muss Wohl-oder-Übel mit seinem Charakter punkten und das am besten noch bevor man einander namentlich vorgestellt wird.
Es passierte, als Leandra zwei Jahre wurde. Ihr Geburtstag ist der 13.03.2004 obwohl sie erst für den 20.03. gebucht war. Aber genau wie heute, hielt sie sich schon damals nicht an die Regeln und unsere Abmachungen. Heute schimpfe ich sie dafür, damals war ich froh. Ich hatte das Gefühl jeden Moment zu platzen und obwohl ich meinen Körper nicht wie ein kostbares Gut behandle, hatte ich ernsthafte Angst, dass dieses kleine Wesen, das doch so winzig nicht sein konnte, meine noch glatte und unbeschädigte Bauchhautschicht, die sich schützend über mein Baby und meine Eingeweide spannte, zerreißen würde.
Die Wehen begannen als ich mit Arabella und Tristan am Boden saß und „Wer-schießt-mit-seinem-Holzauto-die-meisten-Spielfiguren-um“ spielte. In den letzten Wochen war mir das am-Boden-Hocken ziemlich mühsam geworden, aber was sollte ich machen? Arabella reichte mir gerade über die Knie und Tristan mal eben an die Hüfte und somit war es unmöglich ihnen auf Augenhöhe zu begegnen. Biene arbeitete an diesem Nachmittag im Hotel; sie wollte vor meiner Niederkunft noch einen Haufen Überstunden ansammeln, damit sie nach Leandras Geburt ein bisschen für mich da sein konnte. Ihre Idee! Ich war gerührt.
Meine Eltern sperrte ich damals noch immer absichtlich weitgehend aus meinem Leben aus. Meine Mutter fragte mich einen Monat zuvor etwas sorgenvoll, wie ich denn die Geburt so plante. Als ich sie ansah, als ob sie belämmert wäre – man spricht ja meist von einer „natürlichen“ Geburt -, erklärte sie genauer, was sie meinte. Wer wird mich begleiten? Wer wird sich um mich kümmern und rund-um-die-Uhr für mich da sein? Ich sah weg und gab ihr keine Antwort. Ich wollte ihr absichtlich wehtun. Sollte sie sich doch zur Abwechslung mal richtig schlecht fühlen. Aber ich wusste: mit Sicherheit hatte sich meine Mutter sogar noch länger und ausgiebiger schlecht gefühlt als ich. Sie musste ja sechzehn Jahre länger mit der Lüge leben. Trotzdem! Ich konnte ja wohl gar nichts dafür, dass sich meine Mutter in einer schwachen Stunde einem anderen Mann in die Arme geworfen hatte.
Über Biene fand sie heraus, dass meine beste Freundin schon beschlossen hatte mich in den Kreissaal zu begleiten. Was sie tatsächlich tat. Als ich sie etwas unsicher im Hotel anrief und ihr erklärte, dass mein Bauch seit gut einer Stunde zog und ich einstweilen glaubte, ernstzunehmende Wehen zu haben, wurde sie ziemlich nervös. Innerhalb einer halben Stunde war sie zu Hause. Hektisch rannte sie durch die Wohnung und fragte mich die Krankenhaus-Checkliste ab. Hatte ich alles eingepackt? Zahnbürste, Socken, E-Card, etwas Anzuziehen? Zu diesem Zeitpunkt schnaufte ich schon heftig.
Für mich war Bienes Reaktion irgendwie unerwartet. Sie ist immerhin fünf Jahre älter als ich, hatte damals schon zwei Kinder aus eigener Kraft in diese Welt gepresst und war generell ein ziemlich lässiger, entspannter Typ. Warum die Eile? Erste Geburten dauern meist Ewigkeiten. Habe ich mir damals sagen lassen.
Für Bienes Kinder hatten wir für den Fall, dass ich ins Krankenhaus musste, und davon war im 10. Schwangerschaftsmonat ja auszugehen, eine Freundin organisiert, die Arabella und Tristan hüten sollte. Leider aber, so stellte sich nach unserem Anruf heraus, hatte die just an diesem Tag eine Magen-Darm-Grippe bekommen und war für den aktiven Kinderdienst absolut unbrauchbar. Biene überlegte kurz hin und her. Dann wählte sie eine Nummer. Sie fauchte ein paar Unfreundlichkeiten ins Telefon; schon als sie zur Begrüßung nur „Hallo!“ bellte, hätte mir klar sein müssen, dass sie Rüdiger angerufen hatte. Rüdiger! Das ist kein Witz. Rüdiger ist Bienes Ex-Mann. Die Scheidung war einen Monat zuvor über die Bühne gegangen und die beiden gingen nicht als Freunde auseinander.
So betrachtet hat sich Biene aber vornamenmäßig doch gesteigert. Denn statt Rüdiger heiße ich hundert Mal lieber Kasper oder wenn es denn sein muss auch Horst. Schlimmer als Rüdiger geht wohl kaum. Was denken sich solche Eltern bloß? Von heute weg gerechnet ist seine Geburt und damit die Namensgebung ja erst dreiundvierzig Jahre her. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Rüdiger damals ein akzeptabler, weil schön klingender und damit positive Emotionen hervorrufender Name war. Unmöglich!
Was mich auf den Namen meiner Tochter bringt. Leandra. Das ist ein griechischer Name. Er bedeutet „die, des Volkes“. Ziemlich einfach. Die weibliche Form von Leander. Bevor meine Tochter zur Welt kam, wusste ich, dass Leandra ein Mädchen sein würde. Falls sich der Kinderarzt nicht drei Mal verschaut hatte. Es war mir Recht zu wissen, was da auf mich zukam - gab es doch sonst sehr viele Fragezeichen in meinem Leben. Eines weniger war mir Recht. Meine oberste Priorität bei der Suche nach dem passenden Namen war definitiv die Seltenheit. Ich bin Anna, seit mittlerweile vierunddreißig Jahren und ich weiß aus erster Hand, wie es ist mit einem der häufigsten Namen im deutschsprachigen Raum gesegnet zu sein. Gemeinsam mit Hannah und Lena führe ich seit Jahren die Top-Favorite-Namenslisten in Österreich an. Etwas anders in Deutschland – aber auf Platz 6 schaffe ich es immer noch.
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