Diese Fischers sind ohne Arbeit und sie essen keinen Fisch. Er brät sich Fleisch, legt Kartoffeln ins Feuer und Gemüse auf den Rost für sie. Sie sitzt in ihrem Stühlchen, ein Heft auf ihren Knien, schreibt darin herum, hält ab und an inne, um nachdenklich über den See zu blicken, direkt zu ihm, der sich daraufhin instinktiv vom Fenster duckt, obwohl sie ihn von drüben gar nicht erkennen kann. Er stellt sich gerne vor, dass sie Schriftstellerin ist, doch wahrscheinlich betreibt sie ein Tagebuch.
Manchmal begebe ich mich mitten unter diese Menschen und nicht mal die Hunde können mich fühlen. Wie auch.
Für Leute, die von Arbeitslosengeld und von Sozialhilfe leben, leben sie ganz gut. Sie fährt ein kleines Auto, er ein großes, seine Anglerausrüstung ist vom Feinsten, und sie trägt andauernd neues Schuhwerk mit hohen Absätzen, sogar an ihren roten Gummistiefelchen.
Sie sprechen nicht viel miteinander und wenn, dann streiten sie über Geld oder die Hunde. Er sieht von Nahem lange nicht so indianisch aus und sie nicht so jugendlich, wie sie ihm durch sein Glas erscheinen. Er hat sich Rotwein nachgeschenkt und stellt sich vor, was drüben gesprochen wird. Tja. Nie beobachtet er lange, eine Minute, höchstens zwei Minuten. Wenn er sich dieses Duo betrachtet, denkt er nicht, dass er allein ist. Schon lange denkt er nicht mehr in dieser Art. Aber zuvor dachte er sofort an Einsamkeit, wenn er irgendetwas Zweisames sah. Zwei Menschen, zwei Tiere, zwei Bäume, die dicht beieinander standen, Paare, die Hand in Hand gingen und all so was. Heute denkt er sich nichts mehr dabei, er besieht es sich nur.
Die ganze Zeit über bemerkte er nicht, dass Blut aus seiner Hand tropfte. Eine spitze Nussschale bohrte sich in seine Haut. Erst jetzt, als er das Glas zum Munde führt, sieht er die Tropfen und er denkt, das Blut habe eine schönere Farbe als der Wein. Er drückt ein Fetzchen der Papierserviette auf die Wunde. Diese Art von Wohlsein steigt in ihm auf, von der er sagt, es ist, als wäre Gehirn in Sahne eingelegt. Die Augen geschlossen, kaut er an dem Schluck Rotwein, Brombeere, Marzipan, versäumt darum die Rückkehr der Schwäne. Ein Schwanenpaar mit vier Jungen, die erst vor ein paar Tagen fliegen gelernt. Er beobachtet sie seit ihrer Kükenzeit, sitzt dabei auf dem Stoffklappstuhl im Schilf, auf dem Steg, den er sich aus Holzpaletten bis ans Wasser gebaut hat, obwohl Naturschutzgebiet. Bei sich ist er nicht so pingelig wie bei den Fischern. Die Schwäne haben sich inzwischen an ihn gewöhnt, die Jungen sind sogar so zutraulich geworden, dass sie zu seinen Füßen ruhen, während die Eltern sich im See treiben lassen. Es befällt ihn Schmunzelei, wenn er denkt, dass seine imaginäre Katze ihn auf Schritt und Tritt folgt und wie die Schwanenvögel wohl reagieren würden, wenn sie der Katze ansichtig würden.
Er genießt das Vertrauen dieser Tiere, belohnt mit Rosinenstückchen vom Vortage, die er sich von der Bäuerin dafür geben lässt. Ein eigenartiges Bild, sitzt er mit den Schwänen am Ufer, in sich versunken, unförmig in dem langen Parka, den klobigen Gummistiefeln, ab und an sich eine Rosine in den Mund steckt, den Teig den Jungen zu bröckelt, den Eltern auch mal einen Brocken zukommen lässt. Einsam sieht er aus, rührend würde er selbst dazu sagen, wenn er sich so sehen könnte, denn Einsamkeit ist für ihn nicht mehr existent. Er hat sie sich abtrainiert, fühlt sich nur ganz selten allein, denkt nur manchmal an die Katze, fantasiert nur wenig, will nicht mehr unkontrolliert von seinem Gehirn beschäftigt werden. Beschäftigung bedeutet für ihn, nichts Ernsthaftes tun, nichts mit Hingabe, nichts mit Können. Nur etwas tun, um etwas zu tun, kommt für ihn nicht in Frage. Unsinnig, dann besser bewusst nichts tun. Nur die Luft aus- und einatmen, die Augen geschlossen oder geöffnet, innerlich eine Melodie im Magen kreisen lassen. Wenn er so in sich ruht, wirkt sein Körper weich, seine Gesichtszüge wie die eines alten Kindes. Ein kleines Lächeln, in sanft gewölbten Lippen, zärtliche Faltenfädchen um die Augen. Er denkt, dass es gut wäre, so zu sterben. Zack – Aus.
Sein Oberkörper würde nach vorne fallen … in die Nussschalen. Also schiebt er die Holzschale an den Rand des Tisches, ebenso das Weinglas. So würde man ihn finden, mit friedlicher Miene und sie würden sagen: „Gut ist er gestorben und ein schöner Tod!“ Nur die gemeine Anna, denkt er, hätte bestimmt einen dummen Spruch parat. Die gemeinste Frau in seinem Leben, dennoch denkt er ihr, öfter am Tage.
Wer aber sollte ihn finden? Er würde niemandem fehlen, ein ungeheurer Zufall, wenn gerade einer seiner seltenen Besuche erschien. Gut, dass er keine Katze hat, die würde elendlich verhungern oder würde sie ihn anfressen. Er lacht, während er sich ausmalt, wenn ihn die gemeine Anna auffände, empfangen von einer gigantischen, fetten Katze, die ihm die Beine abgefressen hat. Er vertreibt diese Gedanken, stellt sich stattdessen vor, wie es wäre, auf dem See zu sterben. Mitten auf dem See, in einem Boot bei Nacht – Vollmond könnte es sein. Er würde spüren, wie sein Herz langsamer und langsamer schlägt, liegend auf dem Rücken, in die Sternennacht blickend. Vielleicht brächte er es sogar noch fertig, eine Melodie in seinem Körper zu empfinden. Ob er sich ein Boot zulegen sollte? Aber es ist verboten auf dem See zu rudern. Aber nachts, nachts … Ach was, kein Boot, keine Katze, alles nur Ballast.
Ich kann es nicht deuten, würde es aber gerne wissen, was es auf sich hat mit dem See, bei ihm. Natürlich weiß ich seine Gedanken, aber seine Gefühle nicht. Formt er seine Gefühle nicht in Worte, so sind sie mir verschlossen. Wenn er nicht mehr bewusst denkt, dann gelingt es mir, mich von ihm zu lösen, begebe mich hinaus in die Mitte des Sees und versuche zu begreifen, was er wohl fühlt. Es ist gut so, dass er mich nicht fühlen kann, nicht sehen, doch manchtags frage ich mich, ob er etwas ahnt, starrt er so lange in sich hinein.
Ich kenne Mel seit der Sekunde, als er in seiner Mutter aufgenommen wurde. Noch im Kriege, am Heiligen Dreikönigstag, deswegen Mel, von Melchior. Er war so winzig, dass er bei der Geburt zwischen den mächtigen Schenkeln fast nicht zu finden war. Sein erstes Atmen, das Öffnen der Augen, den ersten Laut aus seiner Kehle, ich empfing seinen ersten Gedanken. Obwohl mir seine Gedanken alle Zeit zugänglich waren, sind, werde ich aus Mel nicht schlau. Er ist unberechenbar, nichts ist vorhersehbar bei ihm, plötzlich, spontan, überraschend, fast unmenschlich. Er wundert sich nie über sich selbst, er akzeptiert seine Fehler, er ist sich seiner bewusst. Weiß, dass kein Mensch vor und nach ihm, identisch mit seiner Person, körperlich noch geistig. Aus diesem Bewusstsein stammt sein starkes Selbstwertgefühl. Mel denkt und das erheitert und erschreckt ihn zugleich, dass, wenn er gestorben ist, etwas unwiederbringlich vorbei ist. Dennoch hat er keinen Ehrgeiz, etwas von sich zu hinterlassen, was an ihn erinnern würde. Er ist ausgezeichnet zufrieden, dass er sein Leben bekommen hat, lebte und lebt es mit all seiner Energie, bewusst seiner Einmaligkeit. Nun überfällt ihn gleich sein Schläfchen.
Er ruht im Sitzen, die Augen so weit geschlossen, dass er durch die flatternden Wimpern gerade noch Licht sieht, wiegt sich leicht hin, her, atmet tief, langsam durch die Nase. Er hat sich dieses Sitzschlummern angewöhnt, denn legte er sich nieder, verfiele er in Kürze in Alpträumigkeit, erwachte dumpf, zerschlagen. So im Sitzen erholt er sich und nach einer halben Stunde löst er sich aus der konzentrierten Ruhe.
Mel fiel es ausnehmend schwer, in der Anfangszeit seines Alleinlebens ruhig und ausdauernd zu schlafen. Es plagten ihn existentielle Ängste, Schauderträume, das Bett erschien ihm so groß wie der See, und er lag unbehaglich in kaltem Schweiß. Mit Anna – als diese noch nicht gemein – verbrachte er die Nächte, in sich ruhend, im selbstverständlichen Schlaf. Ihre Anwesenheit beruhigte, doch sobald sie sich an ihn schmiegte, erwachte er, erwachte bei der leisesten Berührung, rückte von ihr ab, lauschte dann so lange ihrem gehauchten Atem, bis er in den gleichen Rhythmus und wieder in Schlaf verfiel. Auf Sex mit der gemeinen Anna hätte er verzichten können, aber nicht auf die gemeinsame Nachtruhe. Das, was ihn im Besonderen mit ihr verband, die Sicherheit spendende Zweisamkeit der Nacht.
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