Lesward führte sie durch ein weitläufiges Gängesystem unter der Erde. Mehrere Türen zweigten von dort aus ab. Als sie um eine Ecke bogen, wäre Dana beinahe vor Schreck in Ohnmacht gefallen. Ein mannshohes metallenes Rad bewegte sich knirschend und zischend auf sie zu. Es war messingfarben, kaum breiter als eine Elle. Auf der Achse des Rades saß ein Mensch. Dampfschwaden stiegen aus dem Gerät auf. Es machte den Eindruck, als entstammte es einem Zirkus der Zukunft. Das Gefährt fuhr an ihnen vorüber.
Der Mann auf dem Sitz hob grüßend die Hand. »Hey Lesward, wen bringst du denn da mit?«
Lesward drehte sich zu dem Fahrer um. »Kümmere dich um deinen eigenen Kram, Cole«, rief er ihm hinterher.
Dann knatterte das Metallrad um die Ecke und war außer Sichtweite. Dana starrte noch sekundenlang auf die Stelle, an der sie es zuletzt gesehen hatte.
»Was war das?« Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. Dies musste ein Traum sein, ein sehr schlechter Traum.
»Das ist ein Kevel, auch Dampfrad genannt. Wundere dich nicht über derlei Dinge, wir erfinden gerne praktische Sachen.« Lesward schüttelte leicht den Kopf. »Ist einfach langweilig hier unten, wenn du verstehst.«
Dana verstand nicht, ihr Verstand war nicht mehr dazu in der Lage, überhaupt noch irgendetwas aufzunehmen und zu verarbeiten. Vollkommen verängstigt ließ sie sich von Lesward in einen Raum führen, der für eine Gefängniszelle viel zu gemütlich wirkte. Doch Dana konnte sich nicht entspannen. Steif wie ein Stock setzte sie sich auf einen gepolsterten Sessel. Ein Schreibtisch stand in einer Ecke des kleinen Zimmers, darüber waren zahlreiche Bücherregale angebracht, die sich unter ihrer schweren Last verbogen.
»Das ist mein Arbeitszimmer. Warte hier, ich schicke eine Kollegin. Sie wird sich um dich kümmern.«
Mit diesen Worten verschwand Lesward aus der Tür.
***
»Ich hoffe, es ist essbar«, sagte die Frau, die sich als Nola vorgestellt hatte. »Es kommt nicht allzu häufig vor, dass wir Besuch bekommen von…« Sie machte eine Pause, als müsse sie nach passenden Worten ringen. »…Leuten von oben .«
Dana nickte und biss beherzt in das Brötchen, das ihr Nola zusammen mit einer Tasse Tee gebracht hatte. Die hübsche blonde Frau, die Lesward geschickt hatte, um sich um Dana zu kümmern, war freundlich, jedoch distanziert. Das Zimmer, in das sie Dana nach dem Bad gebracht hatte, war spartanisch eingerichtet. Außer einem Bett, einem Tisch mit zwei Stühlen und einem Kleiderschrank gab es keine Einrichtungsgegenstände. Dies sei ein Zimmer für Gäste, sagte sie, in welches Lesward des Öfteren jemanden unterbrachte.
Als Dana das Brötchen gänzlich hinuntergeschlungen hatte, senkte sie verlegen den Blick. Ihre Tischmanieren waren für gewöhnlich besser, aber der Hunger hatte sie beinahe um den Verstand gebracht.
»Wie lange muss ich hier bleiben?« Sie spielte nervös mit einer Locke ihres vom Waschen noch immer feuchten Haares. Sie zwang sich, Nola in die kühlen blauen Augen zu sehen. »Wann wird mir der Prozess gemacht? Ich kann mir leider keinen Anwalt leisten.«
Nolas Stirn legte sich in Falten. Sie warf Dana einen Blick zu, als hätte diese sich gerade danach erkundigt, wie man mit Messer und Gabel isst. »Prozess? Anwalt?« Ihre Miene verfinsterte sich. »Was zum Henker hat Lesward dir erzählt?« Nola stieß ein tiefes Knurren aus und ballte die Hände zu Fäusten. »Dieser Patriarch treibt es allmählich zu weit mit seinen Eskapaden.« Ihr Gesicht entspannte sich wieder. Sie legte eine Hand auf Danas Unterarm. »Ach Schätzchen, glaub Lesward bloß nicht zuviel. Was auch immer er dir erzählt hat, hier wird garantiert niemandem der Prozess gemacht.«
Dana war hin und her gerissen zwischen Erleichterung und Entsetzen. Das Schicksal schien sich einen Spaß daraus zu machen, sie als Spielball zu benutzen.
»Und was habt ihr stattdessen mit mir vor? Wer ist Lesward wirklich? Und wer bist du?« Ihre Stimme war leise und zittrig.
Nola lehnte sich im Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Es reicht, wenn du weißt, dass wir ein Haufen Sonderlinge sind, die unter der Erde wohnen. Wir sind unabhängig vom System, eher eine Art selbsternannte Ordnungshüter. Aber mach dir keine Sorgen, du hast bei uns nichts zu befürchten. Lesward ist ein Charmeur, der die Finger nicht von schönen Frauen lassen kann. Du brauchst vor ihm keine Angst zu haben.« Nola pustete sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Allerdings wäre ich an deiner Stelle ganz schön sauer, weil er dir solche Märchen aufgetischt hat. Lesward - ein Soldat der Stadtwache? Pah! Am besten erklärt er dir das alles selbst, denn ich bin es leid, mich ständig um die armen Dinger zu kümmern, die er anschleppt.« Sie schob geräuschvoll den Stuhl zurück und ging zur Tür. Bevor sie den Raum verließ, drehte sie sich noch einmal über die Schulter hinweg um. »Ich werde Lesward jetzt suchen und zu dir schicken. Ich halte mich ab sofort aus der Angelegenheit heraus.«
Dann war Dana wieder allein. Sie zog sich den Bademantel, den die seltsame Fremde ihr gegeben hatte, enger um die Schultern. Das Hemd, das sie darunter trug, war sauber, aber viel zu groß, ebenso die Hose. Dana war froh, das scheußliche Kleid von Argus endlich abgelegt zu haben, auch wenn ihr ihr momentanes Äußeres ebenfalls missfiel. Dana legte den Kopf auf die Tischplatte und schloss die Augen. Der Strom ihrer Gedanken zog sie immer tiefer in einen Abgrund. Wohin hatte Lesward sie gebracht und welche Ziele verfolgte er? Vielleicht war er wirklich bloß ein harmloser Menschenfreund, der Mitleid mit ihr gehabt hatte. Oder… Dana musste unwillkürlich schmunzeln. Vielleicht hatte sie ihm wirklich gefallen? Gleich darauf verwarf sie den Gedanken.
Was soll das für ein Kerl sein, der eine dreckige Herumtreiberin mit verfilzten Haaren aufliest, weil er Gefallen an ihr findet? Seltsamer Frauengeschmack!
Diese Überlegung hatte durchaus humoristische Züge. Dana erwischte sich bei dem Gedanken daran, wie Lesward sie in die Arme schloss und ihr seine Liebe gestand. Sie wusste nicht, ob sie darüber lachen sollte oder ob dies nicht der rechte Zeitpunkt für Späße war. Vermutlich hatte die Erschöpfung sie schon so weit geschwächt, dass selbst rationales Denken nicht mehr möglich war.
Dann öffnete sich die Tür erneut mit einem lauten Zischen. Dana schlug die Augen auf. Lesward erschien auf der Schwelle, seine Miene war ernst. Er trug eine locker sitzende schwarze Hose und ein dunkelrotes Hemd, seine dichten blonden Haare standen von seinem Kopf ab. Schweigend kam er herein und setzte sich auf die Bettkante. Dana verfolgte seine Bewegungen mit den Augen.
»Nola sagt, ich solle mich vor dir rechtfertigen«, sagte er schließlich im spöttischen Tonfall. »Ich wollte dir einfach noch etwas Zeit geben, aber nun gut.« Er machte eine wegwerfende Geste. Ihre Blicke trafen sich. Leswards stechend grüne Augen kontrastierten mit der Farbe seines Hemds. Dana spürte, wie sich die Haare in ihrem Nacken erneut sträubten und ihr ein Schauer über den Rücken lief.
»Es tut mir leid, dass ich dich habe glauben lassen, ich sei ein Polizist«, fuhr er fort. »Und dies ist auch kein Gefängnis, dies ist mein Zuhause. Meine Kollegen sind meine Familie.«
Allmählich lichtete sich der Nebel, der Danas Verstand einhüllte, sie fühlte sich wacher. »Was willst du von mir?«
Lesward deutete auf den Platz neben sich auf der Bettkante. »Setz dich zu mir. Ich erkläre es dir.«
Dana zögerte. »Kannst du es mir nicht erklären, während ich hier sitzen bleibe?« Sie traute ihm nicht. Er war ein verdammt gut aussehender junger Mann, aber trotz Allem war er immer noch ein Fremder.
Er seufzte. »Ich kann verstehen, dass du mir nicht traust, dabei möchte ich dich lediglich besser kennenlernen. Ich hätte dich ohne Weiteres an die Stadtwache verkaufen können, aber ich habe es nicht getan.«
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