»Wie kann das möglich sein?«, flüsterte Jill. »Du lebst ja noch.«
Ray hustete. »Schade, oder?« Seine Stimme war leise und belegt. Er verzog sein vernarbtes Gesicht zu einem schiefen Grinsen, bevor es sich wieder im Schmerz verzerrte. Er hob eine blutverschmierte Hand und streckte sie nach Jill aus, aber er war zu schwach und Jill zu weit von ihm entfernt, als dass er sie hätte erreichen können. Das gelbliche Glühen war aus seinen stechend blauen Augen gewichen, stattdessen lag darin jetzt ein Flehen, das Jill das Blut in den Adern gefrieren ließ.
»Ich kann dir nicht helfen, was soll ich denn tun?«, versuchte sie sich zu rechtfertigen.
»Dann geh und lass mich allein sterben«, murmelte Ray und schloss die Augen. Er bewegte sich nicht, aber sein Brustkorb hob und senkte sich in flachen, unregelmäßigen Atemzügen. Jill wollte sich abwenden und gehen, aber ihre Beine wollten ihr nicht gehorchen.
Er gehört zu den bösen Buben in diesem Spiel , versuchte sie sich selbst zu beruhigen. Er hat es verdient, zu sterben. Geh und vergiss alles, was dich je mit diesem Volk verbunden hat.
In diesem Moment wünschte sie sich nichts sehnlicher, als dass Ray ihr die Erinnerungen gelöscht hätte, als noch Gelegenheit dazu war.
Jill, die für ihre spontanen und übereilten Aktionen bekannt war, sah sich nun mit ihrer eigenen Unentschlossenheit konfrontiert. Sie konnte Ray nicht helfen. Er würde ohnehin sterben. Aber sie konnte auch nicht so herzlos sein, ihn hier liegen zu lassen. Er war ein arroganter Wichtigtuer, der selbst zahllose Leben auf dem Gewissen hatte, aber Jill schaffte es einfach nicht mehr, den Hass auf ihn wiederzuerwecken.
Rays Atmung verlangsamte sich. Es begann bereits zu dämmern. Jill hatte das Zeitgefühl völlig verloren. Es kam ihr vor, als starrte sie schon seit Stunden auf ihn hinab. Wenn er doch nur endlich sterben würde… Oder lag es daran, dass er ein Vampir war? Dem Anschein nach waren diese Wesen zwar hart im Nehmen, aber keinesfalls unverwundbar.
Es würde nicht mehr lange dauern, ehe der Parkwächter seine erste Runde drehte. Wenn Jill dann noch immer hier stand, würde sie sich automatisch zu einer Verdächtigen machen. Sie musste eine Entscheidung treffen. Jetzt.
»Ray?«, flüsterte sie. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er noch einmal die Augen aufschlagen, geschweige denn etwas sagen würde, doch er schien noch immer bei klarem Verstand zu sein.
»Du bist ja immer noch hier«, hauchte er. Jill war sich nicht sicher, ob sie es sich einbildete, doch sie glaubte, eine Träne in Rays Auge aufblitzen zu sehen. Ihre Kehle schnürte sich zusammen. Sie trat einen Schritt auf ihn zu und beugte sich zu ihm hinab. Ihre Glieder fühlten sich steif an vom langen Stehen.
Wieder hob Ray seine Hand ein paar Zentimeter an. Jill gab dem Impuls nach, danach zu greifen. Seine Haut war kühl. Sie spürte, dass er sie zu sich heran ziehen wollte, und obwohl seine Kraft bei Weitem nicht dazu ausreichte, ließ sie sich dazu erweichen, ihren Kopf auf seine Schulter zu legen. Jill wusste nicht, ob es an der Müdigkeit lag, die sie zu übermannen drohte, aber schlagartig durchfuhr sie eine innere Kälte, als ihr Gesicht die Haut in seiner Halsbeuge berührte. Sie wehrte sich nicht einmal dagegen, als Ray in den Stoff ihres Shirts über ihrer Schulter biss, ihn zerriss und mit seiner Zunge über ihr Schlüsselbein fuhr. Ein kurzer scharfer Schmerz, ähnlich eines Wespenstichs, durchfuhr sie. Mit jeder Sekunde fühlte sie sich schwächer, bis sie dagegen ankämpfen musste, nicht die Besinnung zu verlieren. Um sie herum rauschten die Blätter im Wind, irgendwo in der Ferne bellte ein Hund. Bellte wieder. Ein zweiter Hund antwortete.
Ray gab ein leises Brummen von sich, das beinahe wie das Schnurren einer Katze klang. Mit der freien Hand fuhr er Jill durch die Haare und streichelte ihr über den Rücken.
Nach einer Weile löste er sich von ihr, leckte über ihre Haut und ließ den Kopf entspannt zurück sinken.
»Ich danke dir«, sagte er. Seine Stimme brach.
Er verstärkte den Druck und umarmte sie. Seine Kräfte schienen zu ihm zurückgekehrt zu sein. Jill genoss die Berührung, sie fühlte sich mit einem Mal beruhigt und unbekümmert. Sie spürte eine innere Verbundenheit zu ihm, als wären ihre Körper miteinander verschmolzen. Sie wusste, dass sie wütend auf ihn sein sollte, aber es gelang ihr nicht mehr. Und sie wusste auch, dass das Gefühl der Verbundenheit lediglich der sonderbaren Magie anzulasten war, die die Vampire dazu verwendeten, den Menschen Lebenskraft zu entziehen.
Jill umfasste mit einer Hand Rays Nacken und presste seine Wange gegen ihre. Fühlte sich so das Sterben an? Alle Sorgen fielen von ihr ab, ihre Muskeln waren entspannt. Sie wollte diesen Zustand dieser wunderbaren Unbekümmertheit für immer festhalten. Sie spürte, wie eine Träne sich aus ihrem Auge löste und ihr bis ins Ohr lief.
Ray hatte Blut von ihr genommen, und damit viel ihrer Energie. Sie hatte dieses Gefühl der Leichtigkeit schon einmal mit Cryson erlebt, wenn auch längst nicht so stark. Es war nur ein Trugbild. Wenn Ray sie aus diesem Zustand entließ, würde sie wieder Jill sein. Jill, eingeschlossen in ihrer sterblichen Hülle.
Sie hob den Kopf und sah Ray in die Augen. Ihre Gesichter waren nah beieinander, sie spürte seinen heißen Atem auf ihrer Wange. Auch in seinen Augen funkelten Tränen.
»Ich muss zusehen, dass ich hier wegkomme«, sagte er. Seine Stimme klang nun wieder fest. »Bald geht die Sonne auf, und ich bin immer noch schwach. Ich entschuldige mich bei dir.«
Jill runzelte die Stirn. »Wofür?«
»Ich habe dein Blut dazu benutzt, meine Wunde zu heilen und mich soweit zu kräftigen, dass ich vielleicht aufstehen kann. Verzeih mir.«
»Diese Entscheidung musste getroffen werden. Ich bin froh, dass du sie mir abgenommen hast.«
»Dann hasst du mich nicht?«
Jill überlegte einige Sekunden. »Ich möchte es, aber ich kann es einfach nicht mehr.« Unwillkürlich musste sie lächeln. Ray tat es ihr nach.
»Ich habe zwar bislang nie selbst die Erfahrung gemacht, aber ich weiß, was der Biss eines Vampirs in einem Menschen auslöst. Lesward hat oft genug von Menschen getrunken, wenn er auf Frauenfang war. Es macht sie willenlos und zahm, sie lassen danach beinahe alles mit sich machen, was man von ihnen verlangt. Es ist etwas so Intimes, das sich niemals zwischen Fremden abspielen sollte.«
»Ich lasse bestimmt nicht alles mit mir machen, nicht einmal jetzt.«
Ray grinste und entblößte seine makellosen Zähne. »Du bist ja auch die starrköpfigste Zicke, die ich je kennengelernt habe.«
Sie kicherten wie zwei Kinder, die etwas angestellt hatten. Dann löste sich Jill aus Rays Umarmung und richtete sich auf. Stöhnend wuchtete Ray seinen Oberkörper nach oben. Er presste seine rechte Hand auf die Wunde und biss die Zähne aufeinander, als er sich zuerst auf die Knie erhob und dann langsam aufstand. Er wankte. Ein gräulicher Lichtschein im Osten kündigte den nächsten Tag an.
Ohne lange darüber nachzudenken, umfasste Jill mit einem Arm seine Hüfte und legte sich seinen anderen Arm über die Schulter. Der Größenunterschied war ihr dabei ein Hindernis. Sein Gewicht lastete schwer auf ihr. Ihre Beine waren noch immer schwach und zittrig.
»Komm, ich bringe dich noch nach Hause«, keuchte Jill unter der Last seines massigen Körpers.
***
Allmählich stieg das Gelände an. Schon bald ächzte und stöhnte Dana angesichts der Anstrengung, die dieser Aufstieg ihr abverlangte. Und dann tauchte er jäh wie aus dem Nichts vor ihr auf: der Tempel mit dem Weißen Obelisken auf dem Dach. Unwillkürlich schnappte Dana nach Luft, als sie das prachtvolle Gebäude aus glattem hellem Stein vor sich sah. Der Obelisk war noch viel imposanter als in ihrer Vorstellung. Er war mindestens so hoch wie ein zweistöckiges Haus, bestand aus weißem Stein und seine Oberfläche schimmerte vollkommen glatt und perfekt. Am Sockel maß er mehrere Yards im Durchmesser, nach oben hin verjüngte er sich zu einer Spitze. Einige Trampelpfade führten zum Eingang des Tempels, aber sie waren bereits von Gras überwuchert und nur noch schwer erkennbar. Die Pforte des Gebäudes wurde von zwei mächtigen Säulen umrahmt, die Frontseite blieb fensterlos. Die Wände waren vollkommen ebenmäßig, es gab keine Verzierungen und keinen Stuck. In seiner Schlichtheit war der Tempel wunderschön. Efeu rankte sich an einer Seite die Wände hinauf und einige Stellen wurden von grünlichen Moosflecken bedeckt, aber das konnte seiner Vollkommenheit keinen Abbruch tun.
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