Jill ermahnte sich zur Ruhe. Die beiden Lager waren seit Jahrhunderten verfeindet. Was hatte sie erwartet? Dass sie sich hier die Hand reichen würden? Jill atmete tief ein und versuchte, den Blick nicht mehr auf die Leichen zu richten, die unter ihr im Matsch lagen.
Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, denn sie vernahm einen erstickten Schrei abseits dieser Szene. Panisch wandte sie den Kopf, aber sie konnte nichts erkennen. Das schwache Mondlicht ließ sie ohnehin nur eine begrenzte Anzahl Yards weit sehen. Das Waldstück hinter dem Kiesweg lag in vollkommener Dunkelheit.
Ray wandte sich ebenfalls erschrocken um. Seine gelblich glühenden Augen waren von Hass und Entschlossenheit erfüllt. Jetzt konnte auch Jill erkennen, woher der Schrei gekommen war. Nur wenige Yards neben Ray kämpfte einer seiner Kameraden mit einem eisernen Schlagstock gegen einen mit einer Axt bewaffneten Sedhianer. Dieser drängte den Wächter immer weiter zurück. Ray eilte ihm zu Hilfe, versetzte auf dem Weg dorthin einem am Boden liegenden Feind mit seinem Schwert den Gnadenstoß und zog dann eine Schusswaffe aus seinem Gürtel. Der Vampir mit der Axt hatte die Gefahr nicht kommen sehen. Die Wucht des Schusses traf ihn mit voller Breitseite. Ray überließ den Todgeweihten sich selbst und wandte sich ab. Mittlerweile hatte sich der Boden in rot gefärbten Morast verwandelt. Wieder einmal würde die Polizei im Dunkeln tappen, wenn sie am nächsten Tag die Spuren dieses grausamen Kampfes entdeckte.
Plötzlich tauchte Cryson wieder in Jills Sichtfeld auf. Ihr Herz setzte einen Schlag lang aus. Er war mit Blut besudelt, an seinem Hals klaffte eine triefende Wunde. Er rannte auf Ray zu, der ihm den Rücken zuwandte und nichts von der nahenden Gefahr zu ahnen schien. Cryson stapfte über die Toten und Verwundeten hinweg, als seien sie nichts weiter als Dreck unter seinen Füßen. Er nahm eine Waffe vom Boden auf, die weder einem Schwert noch einer Pistole ähnelte. Sie war länglich und hatte einen Griff, dies waren aber auch schon die einzigen Ähnlichkeiten. Zahnräder unterschiedlicher Größe reihten sich hintereinander an der Außenseite auf. Cryson betätigte einen Hebel, vermutlich spannte er den Mechanismus. Das Geräusch veranlasste Ray dazu, in einer ruckartigen Bewegung herumzufahren. Seine Hand schnellte hervor und griff Cryson an die Kehle. Entsetzt schnappte Jill nach Luft. Um die beiden herum tobte der Kampf noch immer, doch ihre ganze Aufmerksamkeit galt diesen beiden Männern. Cryson ließ vor Schreck die Waffe fallen, ein Schuss löste sich. Ein länglicher Bolzen schoss aus dem Lauf hervor und traf einen der Vampire unbeabsichtigt ins Bein. Jill vernahm ein Aufheulen, doch sie hatte keinen Blick für den Verwundeten.
Sie sah die Szene in unnatürlicher Langsamkeit vor sich ablaufen. Sie blickte in die Gesichter der Männer, Zorn sprühte aus ihren gelb glühenden Augen. Crysons Zopf hatte sich gelöst, die schwarzen Haare hingen ihm ins Gesicht wie ein Vorhang. Es war ein Kampf zweier ungleicher Männer: Ray, der ungehobelte Rohling, dessen vernarbtes Gesicht ihn wie eine Gestalt aus einem Horrormärchen erscheinen ließ, und Cryson, der gutaussehende und wohlhabende Gentleman.
Mit einer eisernen Umklammerung hielt Ray die Hand um Crysons Hals geschlungen. Cryson stolperte rückwärts über eine Wurzel. Ray drückte ihn zu Boden, bis er bäuchlings über ihm lag. Ray machte Cryson mit seinem massigen Körper bewegungsunfähig. Jill wollte schreien, doch ihre Kehle fühlte sich wie zugeschnürt an. Sie allein trug die Schuld an diesem Desaster. Sie hätte sich mehr anstrengen müssen, um das Blutlicht zu finden und den Wächtern das Handwerk zu legen. Mit einem Mal hatte sie nun gar nicht mehr das Gefühl, an diesem Krieg nicht beteiligt zu sein. Sie war untrennbar damit verbunden.
Cryson umfasste mit beiden Händen Rays Handgelenk und versuchte, seinem Würgegriff zu entkommen. Keiner der umliegenden Vampire kam ihm zu Hilfe. Sie waren alle selbst darum bemüht, sich ihrer Gegner zu erwehren.
Cryson stieß einen unartikulierten Laut aus, er schnappte röchelnd nach Luft. Dann schlug er mit den Fäusten auf Ray ein, doch dieser blieb unnachgiebig. Das Blut an Crysons Hals wirkte wie ein Schmiermittel, er schaffte es schließlich, sich unter Ray zu winden wie ein Aal und seinen todbringenden Griff zu lockern. Er schien seine Schmerzen mit Wut zu ersticken, denn plötzlich stieß er Rays massigen Körper in seiner Raserei von sich herunter und ging seinerseits zum Angriff über. Krachend schlug er Ray seine Stirn ins Gesicht, sofort quoll Blut aus der Platzwunde hervor. Ray blieb zunächst benebelt auf seinem Hinterteil sitzen, bevor er zur Seite kippte und sich nicht mehr bewegte. Cryson zog einem der Toten eine Pistole aus dem Halfter. Jill beobachtete, wie er die Waffe auf Rays Oberkörper richtete und abdrückte. Ray zuckte einmal kurz zusammen, dann entspannten sich seine Muskeln. Er sackte in sich zusammen.
Während Jill noch gegen das Grauen und die Fassungslosigkeit ankämpfte, riefen die Vampire nach Verstärkung. Weitere Gestalten strömten in den Stadtpark. Schließlich waren sie in der Überzahl und drängten die Wächter immer weiter zurück. Jemand brüllte: »Rückzug! Rückzug!« und in Windeseile stoben die Wächter auseinander und verschwanden lautlos wie Schatten wieder zwischen den Bäumen. Die Jubelrufe der Sedhianer drangen nur noch in einen Winkel von Jills Bewusstsein vor, denn sie war erschöpft, schwitzte und zitterte als wäre sie selbst am Kampfgeschehen beteiligt gewesen.
»Wo ist Jill? Wo ist das Mädchen?«, rief jemand. Jill hob den Kopf, gab jedoch keinen Laut von sich.
Sie sah Cryson, der wie besessen umher rannte und die Gebüsche durchsuchte.
»Jill! Jill, wo bist du?«, rief er. Verzweiflung lag in seiner Stimme. Jill rührte sich nicht. Sie wusste nicht, weshalb, aber sie wollte jetzt allein sein. Sie hatte nicht mehr die Stärke, diesem Mann gegenüberzutreten.
Er hatte Ray getötet.
Er war zwar ein Wächter gewesen und Jill hatte ihn gehasst, aber sie hatte ihn gekannt. All die anderen Leichen bedeuteten ihr nichts, sie waren namenlose Schatten, die in Jills Leben keine Rolle gespielt hatten.
»Verdammt, ich will das Mädchen!«, brüllte Cryson. »Sucht nach ihr!«
Einige Vampire schwärmten aus und durchforsteten das umliegende Waldstück. Andere begannen damit, die Leichen ihrer eigenen Leute fortzuzerren. Die toten Wächter ließen sie liegen. Spätestens am Morgen, wenn die ersten Spaziergänger mit ihren Hunden hierher kamen, würde man die Spuren des Kampfes entdecken.
Jill beobachtete, wie jemand Cryson eine Hand auf die Schulter legte. »Komm jetzt mit, Cam und Rio werden das Mädchen schon finden«, sagte der Mann. Seine Kleidung war zerfetzt, sein rechtes Auge blau und geschwollen. Cryson nickte und verließ mit gesenktem Haupt den Tatort. Jill jedoch blieb noch minutenlang regungslos auf ihrem Ast liegen, bevor sie schließlich in unendlicher Langsamkeit hinab kletterte.
Es war totenstill. Der Mond hüllte die Szene in ein unwirkliches Licht. Die Stimmung war gespenstischer als auf einem Friedhof.
Jill blickte auf Rays Körper hinab. Er lag auf der Seite, die Beine bis an den Körper heran gezogen. Er sah aus, als schliefe er. Jill hätte beinahe einen Schrei ausgestoßen, als er plötzlich die Augen aufschlug und ihre Blicke sich trafen. Ein leises Stöhnen entwich seiner Kehle. Seine Mundwinkel zuckten, als versuchte er zu lächeln.
Jill stand wie angewurzelt da und starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Eine Woge aus gemischten Emotionen brandete über sie hinweg. Erschütterung, Hilflosigkeit, Verwirrung und Schuldgefühle wechselten sich ab. Sogar ein wenig Erleichterung suchte sich seinen Weg in ihr Bewusstsein.
Stöhnend drehte Ray sich auf den Rücken. Sein schwarzer Anzug glänzte feucht von Blut. Unter dem linken Schlüsselbein klaffte ein Loch im Stoff.
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