„Genau. Meine Mutter war früher im Westend am Theater.“
„Hättest du mal Lust was fürs Theater zu schreiben, Abigail?“
Abi brauchte nicht lange überlegen. „Warum nicht?!“
Victor goss ihr ungebeten Kaffee nach. „Wie kommen die Ideen eigentlich in Deinen Kopf?“
Abi dachte nach und überlegte wie sie es erklären sollte. „Naja… es fängt mit einer Vision an. Eine bestimmte Szene in einem bestimmten Raum. Dann stelle ich mir dazu die Personen vor, die die Szene miterleben. Und wenn alles gut läuft, habe ich idealerweise in dem Moment mein Notebook in der Nähe.“
„Erklär mir das mal genauer.“ Victor schob ihr den Kaffeebecher zu.
Abi blickte nun das erste Mal ins Publikum. „Es ist eine Vision, die plötzlich vor meinem inneren Auge hochpoppt. Sagen wir mal: Ein Bild von zum Beispiel einem Mann. Wie er aussieht. Sein Lächeln. Dann die Frau dazu...wie groß sie ist... Ich stelle mir das dann als Gesamtbild oder als Film vor und beginne das sofort aufzuschreiben, weil ich es sonst schnell vergessen habe. Wenn ich einmal angefangen habe, kann die Handlung als Film immer wieder in meinen Kopf zurückkehren.“
„Der Protagonist aus „Im Wandel der Zeit“ ist ja auch ein wahres Schmuckstück“, merkte der schwule Victor breit lächelnd an.
„Ich mag nicht 300 Seiten über einen in meinen Augen unattraktiven Menschen schreiben.“
Das Publikum lachte wieder.
„Deine Charaktere haben auch im Gegensatz zu Dir keine Tätowierungen, oder?“
Abi blickte verblüfft auf ihren linken Arm. „Nein.“
„Was bedeutet Deine Tätowierung?“
Abi drehte ihren Arm um und zeigte auf den Stern auf ihrem Oberarm. „Das ist nur ein Stern mit lauter Wörtern, die das Leben meines Erachtens lebenswert machen.“
Victor las vor: „Liebe, Glaube, Freundschaft, Respekt, Zärtlichkeit...und das letzte Wort heißt…Moment, es ist schon abgeschnitten…In...Inte...“
„Integrität.“
„Ist witzig gemacht. Hast du noch mehr?“
„Ja“, lächelte Abi.
„Wo?“
„Sag ich Dir nicht!“
Das Publikum lachte.
„Was muss ich tun, damit Du mir das verrätst?“
„Gar nichts. Sie sind extra dort, wo sie sind, damit sie nicht jeder sofort sieht.“
„Sie? Das heißt es sind mehrere?“
„Der Stern und noch zwei andere.“
Victor lachte. „Kann ich sie sehen, wenn wir mal gemeinsam schwimmen gehen würden?“
Abi lachte ebenfalls und nickte ergeben. „Ja.“
„Warum das Piercing?“ Victor nickte in Richtung Abis Mundwinkel.
„Weil es mir steht.“
Das Publikum lachte wieder und Victor schüttelte aus gespielter Verzweiflung den Kopf. „Du bist mir eine!“
„Welche?“, schoss Abi die Frage belustigt zurück.
„Eine total Nette!“
„Danke“, sagte Abi geschmeichelt, weil sie spürte, dass Victor das ernst meinte.
„Hast Du irgendwelche Tätowierungen oder Piercings, Michael?“
„Die hättest Du doch spätestens in „Forbidden“ gesehen, oder?“
Das Publikum lachte und Victor kicherte. „Du sagst es. Aber vielleicht hattest Du ja nur eine gute Maskenbildnerin.“
Mit einem Seitenblick auf Abi sagte Michael: „Nein, ich habe weder das eine noch das andere.“
„Du bist derzeit Single, Michael, nicht?“
„Jepp.“
Das Publikum, der weibliche Teil, tobte vor Begeisterung und Huffner grinste schief, wie Abi sehen konnte. „Na, ich find das nicht so toll“, sagte er zum Publikum.
„Michael, gefällt es Dir, wenn eine Frau gepierct oder tätowiert ist?“
Michael trank noch einen Schluck Kaffee bevor er antwortete: „Warum nicht? Wenn es ansprechend ästhetisch aussieht.“
Victor zeigte ihm Abis Arm. „Wie gefällt Dir Abigails Tattoo?“
„Gut.“
„Und was glaubst Du, was für zwei andere Tattoos sie hat?“
Plötzlich blickte Victor auf ein Schild neben einer der Kameras und unterbrach die Runde in dem er in eine andere Kamera sah. „Diese Frage beantwortet Michael Huffner uns gleich – nach der Werbung.“
Das Licht über den Kameras ging aus und Abi atmete erst einmal durch.
„Alles ok soweit?“, fragte Victor sie nett.
Abi nickte und blickte prüfend auf ihre glitzernden Fingernägel. Nein, kein Dreck, dachte sie erleichtert.
„Es ist sehr warm hier drin“, sagte Huffner neben ihr zu Victor, stand auf und zog sich sein Jackett aus. Vorher nahm er den Clip mit dem Mikro ab und klemmte ihn auf seine Hemdknopfreihe um. Eine Assistentin mit einem Mikro am Ohr kam und nahm ihm das Jackett ab.
Im Publikum begannen ein paar anspornende Rufe. Huffner sah sie gespielt entsetzt aber charmant grinsend an. „Oh bitte! DAS wollt Ihr nicht wirklich!“ Ein paar Frauen lachten dreckig.
„In 60 Sekunden geht es weiter“, informierte die Regieassistentin Victor. Sie war zu ihm gegangen und nestelte an seinem Jackett herum.
Michael Huffner setzte sich wieder und Abi ließ ihre Fingernägel los und leckte sich über die Lippen.
Dann gab die Regie die Ansage: „Und zurück – in 5 – 4 – 3 – 2 – 1. Go.“
Victor grinste dümmlich in die Kamera und trommelte gespielt-gewitzt auf dem Tisch herum. „Wir sind wieder da. Heute zu Gast haben wir Michel Huffner, Ihr Lieben da draußen. Und außerdem die wunderbare Bestsellerautorin Abigail Audrun.“
Er wandte sich an Michael. „Wie ich sehe, hast Du Dich schon ausgezogen, Michael!“
„Ja, denn hier ist verdammt viel Östrogen im Saal. Ganz schön heiß!“
Ein paar Frauen im Publikum lachten wieder.
„Da haben wir Frauen es besser“, mischte sich Abi ein, „wir brauchen nicht in Oberhemd und Jackett rumlaufen um schick auszusehen.“
Victor gab ihr recht. „Abigail, bist Du eigentlich in festen Händen?“
„Nein.“
„Du wohnst hier in London, richtig?“
Abi nickte. „Ja, ist nicht weit. Bin mit dem Fahrrad da.“
Einige Leute im Publikum lachten und Abi blickte sie verdutzt an. „Wieso? Parkplätze gibt es doch eh nie welche, wenn man sie braucht und die U-Bahn stinkt.“
Sie hörte Huffner neben sich leise lachen und sah zu ihm rüber. Abi blickte direkt in leuchtend grüne Augen. Aber sie konnte ihn trotzdem nicht leiden. Auch wenn Ihr Herz wieder etwas wild schlug. Außerdem hatte er etwas Androgynes an sich, von dem Abi nicht wusste ob das sexy war oder einfach nur ekelig. Aber scheinbar standen Frauen ja reihenweise auf ihn.
Abi hatte was verpasst, was Victor gesagt hatte, denn sie hörte Huffner neben sich laut auflachen.
Seine Zähne waren weiß und gerade, aber, das war doch…. Ihre Mutter war Zahnärztin – natürlich konnte Abi eine Krone erkennen! Und mit Verblüffung stellte sie fest, dass sie sich über diesen Makel an ihm diebisch freute.
„Sag mal, Abigail, Du bist auch eine begeisterte Leserin, nicht?“
„Woher hast du das denn, Victor?“
„Ich habe eine gute Redaktion.“
„Nun, das stimmt. Ich lese unheimlich gerne.“
„Was liest du?“
„Henry James, Jane Austen, Biographien und für Inspiration ab und zu Frauenromane.“
Victor grinste. „Wollen wir Michael mal dazu bringen eine Passage aus einem Jane Austen Roman zu lesen?“
„Aus welchem denn?“, fragte Huffner Victor.
Abi antwortete prompt. „Stolz und Vorurteil.“
„Welche Passage?“
„Den Korb von Elizabeth an Darcy.“
„Aber dann musst Du mitlesen, Abigail“, gab Victor zu bedenken.
Aber Abi hatte Spaß. „Natürlich.“
Victor entfuhr ein Lacher. „Na schön. Abigail liest Elizabeth Bennet und Michael Mr. Darcy. So, Ihr beiden. Hier sind die Zettel mit Euren Texten.“ Er nahm die beiden Blätter von seinem Tisch, die die Regieassistentin gerade hingelegt hatte.
Abi blickte auf ihren Zettel und wunderte sich, wie die Leutchen vom Sender das so schnell hingekriegt hatten. Huffner musste anfangen und da Abi den Text eh fast auswendig kannte, drehte sie sich zu ihm um.
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