Als er die Halle betreten hatte, blieb er stehen, denn er wollte nicht über ein Hindernis stolpern, auch wenn sich nun bereits etliche Umrisse vor seinen Augen abzeichneten. Er glaubte große Maschinen zu sehen, gewaltige Turbinen oder Kessel, allesamt seit Langem nicht mehr in Gebrauch, und er konnte sich nicht vorstellen, was hier einmal produziert worden sein mochte. Nachdem sein Blick noch ein wenig schärfer geworden war, wagte er weitere Schritte. Und hörte bald wieder die seltsamen, reißenden und schleifenden, rauschenden und raunenden Geräusche.
In einiger Entfernung vor ihm, vor der rückwärtigen Wand, bewegte sich etwas. Etwas Gigantisches. Es reichte bis unter die Decke. Zoltan Zartek stand erstarrt da. Es schwankte sanft wie in einem bloß eingebildeten Luftzug. Und es kam auf ihn zu. Oder vielleicht ging er auf es zu. Er wusste es nicht, alles war durcheinandergeraten, Zeit, Raum, Gefühle. Er wollte weglaufen, wollte auf es zu laufen, wusste, was es war, wusste es nicht. Wusste nichts mehr …
Und dann drang ein Lichtstrahl, ein Strahl des neuen, noch so fernen Tages, des Tages aller Tage, durch eines der hohen, schmalen Fenster hinter dem bebenden Gebilde, das bis zur Decke reichte. Der Strahl fiel an dem Wesen vorbei, denn ein solches war es, und erfasste ihn. Er schloss die Augen. Aber er hatte gesehen.
Er hatte den mächtigen Stamm gesehen, dicker als jeder Baumstamm, aber auch biegsamer. Und er hatte die blauen Blütenblätter gesehen, groß wie Segel, fleischig wie Zungen, und die darin steckenden Staubbeutel mit den gelben Köpfen. Ja, es waren Köpfe, Köpfe mit schwarzen Augen und flachen Nasen und heraushängenden Zungen. Und die gesamte Blüte neigte sich ihm zu, die Köpfe trieben ihm entgegen, mit aufgerissenen Mündern, mit schwarz starrenden Augen. Dann sah er nichts mehr, und er spürte, wie hinter seinen geschlossenen Lidern das Licht erstickte. Und er hörte, und er roch … Und er spürte, wie sich etwas Gewaltiges über ihn stülpte.
Das Licht war ewiger Dunkelheit gewichen. Als ihn die zahllosen Münder erreichten, vermochte er nicht zu entscheiden, ob er von übermächtigem Grauen oder von überwältigender Ekstase zerrissen wurde.
Karin Reddemann - Weh Mutterherz
Bengt-Jörn Schwenke war nach durchaus reiflicher Überlegung zu dem Entschluss gekommen, seine Mutter umzubringen. Eine andere Möglichkeit, sie loszuwerden, fiel ihm beim besten Willen nicht ein. Freiwillig schien sie das Feld nicht räumen zu wollen, dafür war sie trotz ihres hohen Alters schlichtweg zu gesund. Ein Seniorenheim kam nicht infrage. So was kostete ein Vermögen, Bengt-Jörn brauchte ihr Geld für eigene Zwecke. Für seine Mutter stand eh fest, dass sie „irgendwann einmal in einem hübschen Sarg“ aus ihrem eigenen Haus getragen würde. Irgendwann einmal! Tatsächlich schien sie mindestens hundert werden zu wollen. Das ging gar nicht. Also musste er sie ermorden.
Behaglich war ihm der Gedanke nur bedingt, schließlich handelte es sich um seine Mutter. Andererseits mochte er sie nicht mehr so sehr, seitdem er nach der Trennung von Anna wieder bei ihr eingezogen war. Zehn Jahre war das nun her, eine irritierend lange Zeitspanne, wie Bengt-Jörn befand, der nur sehr kurzfristig wieder sein altes Jugendzimmer beziehen wollte. Anna hatte ihn kompromisslos aus ihrer Wohnung geworfen und als für sie „endgültig erledigt“ bezeichnet, absolut grundlos, wie er fand. Er hatte freilich auch nie das geringste Interesse verspürt, mögliche Gründe wissen zu wollen. Jetzt hatte er Corinna kennengelernt, und die benötigte einen Mann, der ihr etwas bieten konnte. Dieser Mann war er. Zumindest würde er es sein, wenn die Mutter weg wäre.
Bengt-Jörn stieß eher zufällig auf Todesfälle, die sich für eine kleine Recherche bezüglich seiner Gesamtsituation anboten. In der Zeitung berichteten sie über einen Studenten aus dem Ruhrgebiet, der seiner Mutter mit einer Hantel den Kopf eingeschlagen hatte. Dieser Akt unschöner Gewalt, für den Bengt-Jörn trotz eigener Mordintention kein rechtes Verständnis aufbringen konnte, war auf eine gewisse Habgier zurückzuführen, - die Mutter hatte jede Menge Geld - , als auch auf ein bedenkliches Schamgefühl des Täters. Der hatte aufgrund depressiver Tendenzen und wohl auch aus diskret verschwiegener Faulheit sein Studium geschmissen und sich nicht getraut, das Zuhause zu erzählen. Also ...
Nichts also! Solch ein kaltschnäuziger Mord als Konsequenz in solch einem banalen Kontext missfiel Bengt-Jörn. Das mit dem abgebrochenen Studium als Motiv fand er lächerlich. Deshalb würde er nie, da hätte er ja schon vor dreißig Jahren … Geld passte eher. So was ergab Sinn und konnte als Rechtfertigung dienen.
Er würde seiner Mutter dafür aber auf gar keinen Fall den Schädel zertrümmern. Nicht sein Ding. Auch kein Abschlachten. Da hatte einer aus Bayern sage und schreibe achtundachtzig mal auf seine Mutter eingestochen, - sechszehn von den Stichen wären für sich allein schon tödlich gewesen - , und hinterher erklärt, sich nicht mehr unter Kontrolle gehabt zu haben bei dem ganzen Gemetzel. Unter Kontrolle. Bengt-Jörn stellte sich vor, wo der Kerl überall mit seinem Messer herum gestochert und gewetzt haben musste. Und beim wievielten Stich er selbst aufgehört hätte, um auf Nummer sicher zu gehen. Abstechen kam aber eh nicht infrage. So einer, der, wenn schon, denn auch gehörig Blut spritzen sehen will, war Bengt-Jörn Schwenke nicht. Er bezeichnete sich selbst als sehr wohl sensibel.
Dementsprechend verspürte er ein sondersam tiefes Mitgefühl, als er die Geschichte von dem 56jährigen Verwaltungsangestellten las, - exakt sein Jahrgang -, der seine Mutter nach einer wüsten Grundsatzdiskussion strangulierte. Zu viel Wodka und noch viel mehr Wut. Typisches Muster für grau und sauer gewordene Nesthocker.
Das Fatale an der ganzen Sache war: Der Mann DACHTE, sie erwürgt zu haben, wie sie da so starr und steif vor ihm auf dem guten Teppich lag. TATSÄCHLICH war sie nur komplett weg getreten, quasi scheintot. Den vermeintlichen Mörder packte das Entsetzen, dann die unvermeidliche Trauer, - an diesem Punkt schluckte Bengt-Jörn schwer - , schließlich die nackte Panik. Wohin mit der Mutter? Fieberhaft sinnierte er, schleppte sie letztendlich in die Garage und legte sie in den Kofferraum. Fuhr in finsterer Nacht zum abseits gelegenen Ufer des Flusses, in den er als Kind Steine geschmissen hatte, und warf nunmehr die Mutter hinein. Als man sie zwei Tage darauf aus dem Wasser fischte, wurde Tod durch Ertrinken festgestellt. Nach vorangegangener Strangulation. Eins und eins ergab auch hier immer noch zwei: Der Sohn wurde verhaftet, gestand gesenkten Hauptes und schluchzte reuevoll. Wegen gefährlicher Körperverletzung mit Todesfolge unter Berücksichtigung seiner Gemütslage und Trunkenheit verurteilte man ihn zu einer läppischen Gefängnisstrafe, beinahe empörend läppisch, wie Bengt-Jörn es sah, aber trotzdem irgendwie gerecht. Der Mann hatte frei sein wollen. Wie auch er. Befreit von der allgegenwärtigen Mutter, die ständig bei der dringend erforderlichen Selbstverwirklichung störte. Wie seine.
Bengt-Jörn sah sich den Film „Mutter muss weg“ an, - natürlich ohne seine Mutter, die bei der Chorprobe im Gemeindehaus weilte -, und schaltete unzufrieden ab. Eine Posse. Die Mutter war am Ende immer noch da. Quengelnd und zankend und höchst lebendig.
Bengt-Jörn brauchte etwas mit Happy End. Orest fiel ihm ein. Kein gutes Beispiel. Trotzdem an den von leidigen Gewissensbissen Geplagten zu denken war, intellektuell gewertet, nicht ganz so ungewöhnlich für ihn, er hatte immerhin Germanistik studiert. Sehr lange. Eindeutig zu viele Semester, als dass er das Chaos noch hätte sortieren können. Also machte er kein Examen. Punkt. Aber tragisch von der Mutter gebeutelte Männer wie Nero, Norman Bates oder eben Orest, nach denen er ja nun mental fahndete, waren halt auch nach all den Jahren immer noch präsent. Orest, Sohn des Troja-Veteranen Agamemnon, brachte seine Mutter Klytaimnestra um. Die hatte zwar ihren Gatten ermordet und den Tod durchaus verdient, - Bengt-Jörn überlegte, ob seine Mutter vielleicht auch ... nein, gut, das nun nicht, sein Vater war völlig normal verstorben -, aber Orest wurde fortan von Racheengeln gehetzt. Muttermord eben.
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