Liebe Freunde des gepflegten Grauens,
eine neue Zwielicht -Ausgabe liegt vor euch und das ist nicht selbstverständlich. Bücher mit Kurzgeschichten des Genres Horror und unheimliche Phantastik gibt es häufig, aber mir fällt auf Anhieb keines ein, das es auf 14 Ausgaben gebracht hat, sieht man von Zwielicht Classic ab – die Reihe mit Nachdrucken steht bei 15 Nummern.
Als im April 2009 die erste Ausgabe erschien, eine indirekte Fortführung der Leselupenbücher Die dunkle Seite und Schattenseiten , war unser Ziel, eine regelmäßige Publikationsmöglichkeit für Autoren und entsprechenden Lesestoff für Liebhaber dieser Literaturform zu schaffen. Das ist uns gelungen. Wenn auch seitdem eine Vielzahl an Anthologien erschienen ist, so was wie Zwielicht gibt es kein zweites Mal. Die Autoren sind frei von jeglicher Inhalts- und Längenvorgabe und so bietet Zwielicht vor allem Abwechslung und scheut sich weder vor unterhaltsamen noch anspruchsvollen Geschichten.
Viermal gewann Zwielicht den Vincent Preis als Beste Anthologie, zweimal für die Beste Grafik, und Zwielicht 13 gewann mit Dann singe ich ein Lied für dich von Gard Spirlin zum ersten Mal die Kurzgeschichtenkategorie.
Erfolge sind aber immer das Gestern. Heute bieten wir drei Übersetzungen an. Wie in jeder Ausgabe findet sich eine deutsche Erstübersetzung von Algernon Blackwood, diesmal aus dem Jahr 1906. Jesse Franklin Bone – Einfuhrverbot für Horgels (1957) wurde ebenfalls zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt, widmet sich dem Thema Pandemie und ist damit brandaktuell, während Harry Harrison Kroll – Altweibersommer (1924) die Angst vor … Ach lest doch selbst.
Ina Elbracht ist der neue Star im deutschsprachigen Horror und Escape Room beweist das aufs Neue. Julia Annina Jorges zeigt mit Puppenspiele ebenfalls, dass Horror keine Männerdomäne ist, im Gegenteil. Michael Siefener vorzustellen, heißt Eulen nach Athen zu tragen, der Altmeister des deutschen Horrors sollte jedem ein Begriff sein. Auch Karin Reddemann hat sich mit ihrem unverwechselbaren Stil eine wachsende Fangemeinde geschaffen.
Ein besonderes Anliegen ist es uns, Dante Infernalis von Christian Weis posthum zu veröffentlichen. Christian ist leider viel zu früh von uns gegangen und so freuen wir uns, dass wir unseren Beitrag leisten können, die Erinnerung an einen wunderbaren Autor wachzuhalten.
Holger Vos und Thomas Kodnar sind beide noch unverbrauchte Autoren; dass sie aber mit ihrer Prosa anderen in nichts nachstehen, das zeigen Skull City und Loverʼs Limb.
Vincent Voss, Sascha Dinse und Michael Tillmann sind mittlerweile so was wie Zwielicht -Institutionen, da sprechen die Geschichten für sich.
Bei den Artikeln findet sich eine weitere Folge der Legenden des Kannibalismus von Achim Hildebrand sowie der Beginn einer Artikelreihe von Karin Reddemann. Abgerundet wird dies alles von den Ergebnissen des Vincent Preis 2019 und der Auflistung der Horror-Werke 2019.
Während ihr dieses Buch lest, arbeiten wir schon mit Hochdruck an Zwielicht 15 und hoffen, ihr bleibt uns treu. Sollte euch diese Ausgabe gefallen, dann macht kein Geheimnis daraus. Wir freuen uns über jede Rückmeldung.
Mit dunklen Grüßen
Geschichten
Ina Elbracht - Escape Room
Achtung! 1111 Achtung!
Ainz
Es gibt Dinge, die spontan entstehen. Als ehemals erfolgreiche Youtuberin weiß ich das. Manche Entscheidungen müssen intuitiv und blitzschnell getroffen werden. Wenn man einmal da draußen ist, kann es wie der permanente Ritt auf einer Welle sein. Trotzdem nervte es mich, dass Judy immer so lausig vorbereitet war und statt mit Recherche oder Kenntnis zu glänzen, sich ganz dem Augenblick hingab im unverbrüchlichen Vertrauen auf ihr Improvisationsgeschick, eine überlebensgroße Klappe und ihr einnehmendes Wesen. „Als der liebe Gott den Charme verteilt hat, hab’ ich mich zweimal gemeldet“, pflegte sie anmutig kichernd zu sagen, wenn ihr jemand ein Kompliment machte. Nachdem ich das öfter im exakt gleichen Tonfall zu hören bekommen hatte, fand ich daran rein gar nichts mehr charmant. Na ja, so ergeht es wohl denjenigen, die Sternen zu nahe kommen.
Es ist mir immer leicht gefallen, mir Judy zu ihren Schulzeiten vorzustellen. Bestimmt haben alle über ihre Bemerkungen gelacht, die aus dem Mund etwa der Klassenprimel gnadenlos als unwitzig abgestraft worden wären. Was lässt sich noch weiter über sie sagen? Ich schätze, dass jeder jemanden wie Judy kennt.
Judy und ich waren zur gleichen Zeit gestartet. Als stinknormale kleine Urbexer kannten wir uns aus einem Lost-Places-Kollektiv, in dem Anonymität der wichtigste Teil des gemeinsamen Kodex darstellte. Judy hatte ihren Szene-Namen von Officer Judy Hopps aus Zootopia, deren Halbmaske sie trug, sobald gefilmt wurde. Eine gute Wahl, denn ihr schöner, breiter Mund perfektionierte den Eindruck eines sympathischen Schmunzelhasen. Auch ich habe seit unseren frühen Anfängen nie etwas verändert; mein Markenzeichen war stets eine rote Zorro-Maske. Um ehrlich zu sein, passten meine von mir wenig geliebten schiefen Katzenzähne ganz gut dazu.
Mit der Zeit verschmolzen Judy und ich zu einem perfekt eingespielten Team, das furchtlos in Industrieruinen, verlassene Klinikgebäude, Bunker oder verfallene Villen einstieg und munter alles kommentierte, was wir vorfanden. Nicht selten waren das andere Urbexer und wir wussten, dass wir einen Schritt weitergehen und ein neues Level erreichen wollten. Sich mit lauter traurigen Gestalten auf den Zehen zu stehen und mitunter aushandeln zu müssen, wer wann wo fotografieren oder drehen durfte, entsprach nicht unserem Niveau. Wir professionalisierten uns mit denjenigen im Kollektiv, die es genauso ernst meinten wie wir, und stiegen zu einer Art internen Elite auf, einer eingeschworenen Bande, bis wir zu etwas Eigenständigem wurden. Der Sprung gelang. Wir wurden „fabulous and famous“, wie Judy nie müde wurde unseren Aufstieg zu bezeichnen. Wir ließen uns zu nichts herab und gingen schon lange nicht mehr irgendwo hin. Wenn eine Location nicht exklusives Neuland war, galt sie als verbrannt und interessierte uns nicht. Auf der Fahrt nach Polen gestand sie mir im Wohnmobil, wie sehr sie hoffte, dass wir diesmal einen Volltreffer landen würden. Den konnten wir nach einer längeren Durststrecke gut gebrauchen. Sie wartete, bis wir einen Rastplatz anfuhren und uns der Aufenthalt in der Damentoilette außer Hörweite von Janusz, unserem relativ neuen Kameramann, brachte. Offenbar vertraute sie ihm nicht im gleichen Maße wie mir. Angesichts unserer strikten Anonymitätsregel eigentlich großer Quatsch, aber so ticken manche Leute nun mal.
„Hör mal, Red“, sagte sie und sah mich über den Spiegel des Waschraums an, „was meinst du, wollen wir diesmal zum allerallerersten Mal ohne Masken vor der Kamera auftreten?“ Ich zog erstaunt eine Augenbraue hoch.
„Soweit ich mich erinnere, verbietet das unser Kodex“, antwortete ich. Sie knuffte mich spielerisch gegen die Schulter.
„Über sowas sind wir doch längst hinausgewachsen. Oder hast du wirklich Angst vor Strafverfolgung? Hausfriedensbruch und der ganze Bullshit? Du doch nicht! Ohne Masken können wir den Sprung zu richtigen Influencern schaffen. Nicht nur diese Pillepalle-Einnahmen, die wir jetzt haben.“ Ich glaube, es überraschte sie sehr, dass sie mich nicht weiter überreden musste und ich sofort einverstanden war.
„Okay, Judy“, sagte ich nur und steckte mir eine Reisezahnbürste in den Mund, „können wir machen.“
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