“Hey Jenny, hallo Hund. Hätte mich auch gewundert wenn ich euch nicht als Empfangskomitee hier angetroffen hätte.” Jenny, der kleine Wildfang aus dem zweiten Stock und ihr Hund namens Hund. Ich freundete mich vor zirka vier Jahren mit ihr an, als ich das Appartement bezog. Damals noch mit langen Zöpfen und einem dicken Teddy unter dem Arm, wuselte sie immer um mich herum, bis ich aufgab und den nervenden Quälgeist in meiner Nähe duldete. Das kleine eingeschüchterte Mädchen wurde von ihrer Mutter, einer Alkoholikerin, meistens vernachlässigt, und über den Verbleib ihres Vaters weiß ich bis auf den heutigen Tag noch nichts genaues. Nach und nach verbrachte sie mehr und mehr Zeit bei mir, bis ich ihr einen Nachschlüssel meiner Wohnung gab. Ich sorgte für einen gefüllten Kühlschrank und ließ sie meine Klamotten tragen. Jenny unterdessen hielt mein Appartement ein wenig in Schuß, was wirklich kein leichter Job war, da ich sehr schlampig und unordentlich bin. Zwar redete man über das “ungleiche Paar”, aber bei der allgemeinen Gleichgültigkeit, die in diesem Hause herrschte, schenkte man uns keine weitere Beachtung. Jedenfalls mauserte sich das kleine Schwesterchen, das ich in ihr sah, zu einem bildschönen Teenager, und ihr Körper blühte zu wohlgeformter Weiblichkeit heran.
In der vertrauten Umgebung meiner vier Wände ging es mir schon direkt besser. Wohlig suhlte ich mich im meinem Sessel und legte die Füße auf den Tisch. Jenny verschwand in der Küche und holte Bier, für sich und mich, den erschöpften, erfolglosen Kreuzritter. Es folgte ihr der Hund namens Hund, der vergeblich hoffte, daß bei Jennys Weg zum Kühlschrank auch für ihn was herausspringen könnte. Mit kurzen, präzisen Sätzen erstattete ich Jenny Bericht zu den jüngsten Ereignissen. Natürlich nicht ohne mein klägliches Versagen auf ein erträgliches Maß herunterzuspielen. Jenny saß vor mir im Schneidersitz auf dem Boden und kicherte an einigen Stellen, an denen ich trotzdem saublöd dastand.
“Sag mal John, wie kommt es, daß du nie was zu Ende bringst, was du anfängst?” fragte sie mich schließlich.
“Weiß ich nicht, wahrscheinlich liegt es daran, daß ich nach einer gewissen Zeit das Interesse an einer Sache verliere, unaufmerksam werde und Scheiße baue”, antwortete ich richtigerweise. Denn genau da lag der Hund begraben. Für alles Neue war ich schon immer leicht zu begeistern. Ich stürzte mich dann mit leidenschaftlichem Elan auf eine neue Herausforderung, doch leider hielt dieser Schwung nie lange an. Ich liebte das Neue, und auch wenn ich in der Schule nur Mittelmaß gewesen bin, so lernte ich doch stets gerne. Meine Neugier kannte schon als Kind keine Grenzen, und wenn ich erst mal Blut geleckt hatte, ließ ich nicht eher locker, bis ich wußte wie ein Ding ablief. War aber erst der Lernprozeß abgeschlossen, wurde alles zur banalen Routine, die ich wie die Pest hasse. Ich kann ganz einfach nicht aus banalen Automatismen heraus monoton eine Arbeit verrichten. Damals empfand ich dieses Gefühl noch viel stärker als heute. Ich brauchte Inspirationen, die mich weitertrieben, ständig neue Impulse, die meinen Motor auf Touren hielten. Nur solange ich mich mit einer Sache auseinandersetzen konnte, war ich wirklich gut. Höchstwahrscheinlich hätte ich den Job in Frankfurt sowieso bald geschmissen, wären mir die Bosse nicht zuvorgekommen, denn Frankfurt erwies sich nicht als das erhoffte Nirwana, und Großraumbüros machen mich eh krank.
“Komm, ich helfe dir die Koffer auszupacken. Hast du neue Klamotten gekauft?” quietsche Jenny in freudiger Erwartung. Ich war jedoch zu müde und zu schlapp für eine Antwort. Doch ich konnte aus dem Blickwinkel sehen, wie Jenny ohnehin schon kopfüber in den beiden Reisetaschen steckte und alles rauszupfte, wobei sie einige erlesene Stücke für ihren eigenen Gebrauch beiseite legte.
“Schreibst du wieder an deinem Buch weiter?” fragte Jenny, ohne ihre Aufmerksamkeit von der Kleidermusterung abzuwenden. Richtig, mir fiel plötzlich wieder ein, daß ich ein Jahr zuvor damit angefangen hatte, meine Erlebnisse in Romanform niederzuschreiben. Aber wie mit allem anderen verlor ich auch dabei schnell die Laune und ließ das Unternehmen “John schreibt einen Bestseller” wieder einschlafen.
“Mal sehen, warum eigentlich nicht. Zeit genug dazu habe ich jetzt ja wieder”, antwortete ich ihr trocken, ohne es wirklich ernst zu meinen.
“Und was sind deine nächsten Pläne?” frage Jenny weiter. Ich holte tief Luft und blies sie langsam wieder aus. Konkrete Gedanken über meine weitere Zukunft hatte ich mir natürlich noch keine gemacht.
“Schätze, ich suche mir einen neuen Job und ..., oh nein, nicht auch noch das Seidenhemd.” Zu spät, Jenny war sofort in das kostbare Stück verliebt gewesen, und ich wußte nur zu gut, daß keine zehn Pferde sie von ihrer Beute hätten abbringen könnten. Zufrieden mit dem guten Fang, den sie gemacht hatte, verschwand Jenny wieder Richtung zweite Etage.
“Komm Hund, es wird Zeit für uns.” Schon draußen steckte sie den Wuschelkopf noch einmal durch den Türspalt ins Zimmer und sprach mit sanfter und etwas verlegener Stimme.
“Schön, daß du wieder da bist, ich habe dich vermißt.”
“Ich dich auch, du Frechdachs. Ich sehe dich dann morgen. Gute Nacht.” Die Tür schloß sich und ich war wieder allein. Komisch, aber genau in diesem Moment krochen die dunklen Erinnerungen an einen Berg in mir auf und verdichteten sich zu einem konkreten Bild. Dieser Berg lag hinter dem Wohnviertel, in dem ich aufwuchs. Ich erinnerte mich an die Zeit, als ich noch sehr klein war und unbedingt versuchte, diesen unüberwindlichen Steinklumpen zu erklimmen. Mit verdreckten Hosen, blutigen Ellenbogen und verkratzten Armen hatte ich es dann eines Tages schließlich geschafft. Nicht daß ich Bergsteigen liebte, nein, ich wollte lediglich wissen, was hinter diesem Berg zu sehen sei, der eine natürliche Grenze darstellte. An dem offensichtlich die Welt an ihrem Endpunkt angelangt zu sein schien. Sollte das etwa der rote Faden in meinem Leben sein, dachte ich. War das die Leitidee in dem Bühnenstück, das meinen Namen trug? War ich verdammt? Sollte ich in meinem Leben etwa ständig Berge bezwingen, besessen von der Idee, ich müsse wissen, was sich hinter ihnen verbirgt, wohl wissend, daß hinter jedem zehn weitere Berggipfel aufragen würden? Die Augen stets sehnsüchtig auf den Horizont gerichtet und immer auf der Suche nach dem einen Platz, dem einen Ort, der für mich bestimmt sein mußte. Würde ich ihn jemals finden, oder sollte ich niemals zur Ruhe gelangen, ständig weitergetrieben von einer höheren Kraft, die ich nicht beschreiben konnte. Diese irren Gedanken jagten mir durch den Schädel, doch das Bett erreichte ich jedenfalls nicht mehr, der Schlaf übermannte mich in meinem Sessel.
Eine Woche später fand ich schließlich Arbeit bei einer Tag- und Nachttankstelle in Saarlouis. Nichts aufregendes, aber es war ja auch nur für den Übergang gedacht und brachte vorübergehend die notwendige Kohle. Nach sechs weiteren belanglosen Monaten in stiller, trister Monotonie spürte ich es wieder, das Kribbeln, ich wurde unruhig. Ich spürte, daß ein Punkt vor mir lag, an dem sich einiges ändern sollte. Und tatsächlich schildert das folgende Abenteuer den eigentlichen Auslöser für die unglaubliche Wende in meinem Leben.
Tröööt, ...Tröööt.
Die impertinente Hupe eines abgewrackten Audis erkannte ich sofort. Und prompt kam auch schon der schlaksig wirkende Frank Hardfort zur Tür des Tankstellenstores hereingestiefelt, in dem ich arbeitete. Wie immer die langen schwarzen Haaren nach hinten gekämmt und mit der Lederjacke bis zu den Ellenbogen hochgezogen. Und dem mir bestens vertrautem Gesicht eines gutaussehenden Mädchenschwarms.
Der führt doch wieder irgendwas im Schilde, mal sehn was es diesmal ist, dachte ich, als ich den heranbrausenden Frank begrüßte.
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