Die Hauptsicherung hatte sich verabschiedet. Das Gebäude mußte wohl eine Art Gegenwehr entwickelt haben, nachdem es erkannt hatte, welche Gefahr von dem Strom auszugehen vermochte. Die Angreifer griffen ins Leere und fielen reihenweise auf die Schnauze, wie die meisten der gepeinigten Gäste übrigens auch, die jetzt nicht nur taub, sondern zu guter Letzt auch noch blind waren. Sie tasteten sich an den Wänden und Tischen entlang. Entlang durch die Salatschüsseln, über die Mayonnaise verschmierten Teller hinweg, dann wieder durch ein paar Gesichter und Dekolletés; stets auf der Suche nach einem Weg ins Freie. Manche leisteten ganze Arbeit, indem sie beim Hinfallen gleich den ganzen Tisch mitrissen. Andere wiederum begnügten sich damit, die Gläser und Flaschen einzeln umzustoßen. Viele hielten es für das Beste, auf dem Boden, der mittlerweile im Morast zu versinken drohte, entlangzukriechen, da man sich über kurz oder lang sowieso immer wieder dort befand. Wohl dem, der einen guten Orientierungssinn besaß. Und auch mir gelang schließlich im Scheppern, Poltern, Wimmern, Weinen und Fluchen unerkannt die Flucht.
Mein Kopf dröhnte mir den ganzen nächsten Morgen, und die Hoffnung, die ich heimlich hegte, ich habe das alles nur geträumt, verblaßte augenblicklich, als ich das Paxton-Gebäude betrat. Man mied mich und ging mir aus dem Weg. Ich konnte regelrecht spüren, wie hinter meinem Rücken über mich geredet wurde. Teils grimmig, teils kichernd, jedoch immer mit vorgehaltener Hand. Also doch, Pech, dachte ich und schleppte mich an meinen Arbeitsplatz. Dort angekommen sank ich in den Bürosessel, fixierte mit meinen Blicken starr und bewegungslos die Tischlampe, als wollte ich sie hypnotisieren. Ich wartete auf das Exekutionskommando, welches mich zum Boß zerren und mich hinrichten würde. Und ich mußte nicht einmal lange darauf warten.
Wie ein Häufchen Elend saß ich im Büro des Chefs, als dieser mich zur Minna machte.
“Was zur Hölle haben sie sich denn dabei gedacht?”
“Äääh.. na ja..”
“Wissen sie überhaupt was für einen Schaden sie da angerichtet haben?”
“Öööh, also.” Meine Verteidigung verlief eher sporadisch. Was kann man auch schon tun, so erniedrigt an den Pranger gestellt? Außerdem war mir eh alles egal, mein Schädel brummte, und wenn dieser cholerische und humorlose Chef meinen Kopf haben wollte..., na bitte, meinetwegen, dann sollte er ihn eben kriegen. In diesem Zustand wäre ich ihn sowieso lieber losgewesen. Doch entgegen meiner Einschätzung der Situation ließ er Milde walten.
“Sie werden die nächsten Monate im Archiv mit Ablagen und mit der Ausgangspost verbringen. Da können sie in Ruhe über den Mist nachdenken, den sie verzapft haben. Und dort können sie wenigstens keinen Schaden mehr anrichten.” Diese Fehlinterpretation war wohl der folgenschwerste Irrtum, den mein Boß je in seinem Leben begangen hatte, wie sich später herausstellte sollte.
Verärgert über die kleinliche Reaktion meines Chefs räumte ich also das Feld und verschwand ins Exil. Aber am meisten ärgerte ich mich wieder einmal über mich selbst. Bravo, ich hatte es erneut geschafft. Wieder einmal hatte ich meinen Launen nachgegeben und einfach nur das getan, wonach mir einfach zumute war. Mein Motto lautete stets: Pfeif drauf, was andere sagen, scher dich einen Dreck um das, was andere denken, tu einfach nur das, wozu du in Stimmung bist. Eine Lebensphilosophie, die zwar nachvollziehbar erscheint, aber einem fünfundzwanzigjährigen Mann doch einige Probleme bereitet. Einem Teenager verzeiht man eher exzentrische oder naive Untugenden als einem jungen Mann im leicht fortgeschrittenen Alter, bei dem bereits Vernunft und Verantwortungsbereitschaft erwartet werden durfte. Die logische Folge: Ich machte mich zusehends chronischer Unreife verdächtig. Dennoch ging ich immer unbeirrt meinen Weg, gleich was da kam, gleich was es kostete, gleich wie oft ich mit dieser Einstellung Schiffbruch erlitt. Integration bereitete mir schon immer gewisse Probleme. Die Vorstellung, Menschen müssen mit militanter Präzision gehorsame, gut geölte Zahnräder der Gesellschaft sein, ließ mich erschauern. Das bedeutete für mich den Tod jeder Art von Individualismus und Kreativität. Folglicherweise mußte ich gleich die ganze Gesellschaft in Frage stellen. Meine leicht paranoiden Vorstellungen von dem, was schlicht als “leistungsorientierte Gesellschaft” bezeichnet wird, machte es mir damals echt nicht leicht. Es bedeutete schlichtweg eine Art von persönlichen Hochverrat, mich vor anderen Leuten als etwas darzustellen, das ich nun mal nicht war. “Ich bin, wer ich bin, und wer mich so nicht mag, der soll es eben bleiben lassen.” Mit diesen Worten beendete ich oft total danebengegangene Tage. Doch wenn ich in dieser Welt überleben wollte, mußte ich mir etwas einfallen lassen. So schuf ich mir eine Figur, in die ich je nach Bedarf schlüpfen konnte. Mit dieser Hilfe mogelte ich mich immer irgendwie durch. Diese Karikatur eines netten jungen Mannes von nebenan wurde mir im Laufe der Jahre so vertraut, daß ich jeden aufs Kreuz legen konnte. Oft genug hatte ich so das Spielchen der “normalen Leute” mitgespielt, wie beispielsweise bei dem Einstellungsgespräch. Natürlich genoß ich es, wie ein Chamäleon in eine Rolle zu schlüpfen und einfältige Spießer an der Nase herumzuführen. Meist gelang mir das auch, aber dummerweise war der Erfolg nur auf Dauer begrenzt, bis mein wahres Ich wieder durchschlug und ich mich wieder zum Idioten machte.
Sie gefiel mir eigentlich ganz gut, die kleine Besenkammer, welche man mir zugewiesen hatte, die mich in Schach halten und isolieren sollte. Hier ging es weit weniger stressig zu, als im Marketinggroßraumbüro. Und ich nutzte die Zeit für die endlosen Tagräume, Spinnereien und Philosophien, die mich schon ein ganzes Leben begleiten. Sogar ein PC war mir geblieben, den ich auch weiterhin fleißig gebrauchte, um massenweise eigenartige Werbeslogans zu produzieren. Nur diente der Zweck dieser Arbeit ausschließlich meiner eigenen Belustigung. Mit lausbubenhaftem Grinsen zauberte ich so die unverschämtesten Parolen auf Diskette, die je ein krankes Gehirn verbrochen hatte, und dann kringelte ich mich anschließend vor Lachen.
“Welche Spinnerei ist dir denn jetzt schon wieder eingefallen?” Cindy aus der Verwaltung brachte wie jeden Tag gegen 3.00 Uhr ihre Post vorbei, deren Weiterleitung ja nun mein neuer Job war. Sie konnte mich durch ihre großen Brillengläser sehen, wie ich wiehernd und brüllend vor Lachen auf dem Tisch hing und mit der Faust auf die Tischplatte einhämmerte. Mit der anderen Hand winkte ich ihr zu, rappelte mich mühselig auf meinem Stuhl auf, wischte mir eine Lachträne von der Backe, hielt einen Moment lang inne und legte anschließend wieder voll los. Jedesmal wenn ich glaubte, mich gefangen zu haben, wand ich mich Cindy zu, wollte etwas sagen, blickte dabei in ihr verdattertes Gesicht und sofort war wieder alles vorbei. Dieses lustige Spielchen wurde noch einige Male wiederholt, ehe ich etwas Verständliches hervorbringen konnte.
“Hey Cindy, nix für ungut, komm rein.” Die hochgewachsene schlanke Frau nahm Platz, hob eine Augenbraue, schüttelte kaum merklich den Kopf und lächelte sanft.
“Oh John, du verrückter Vogel, wirst du denn nie erwachsen?”
“Natürlich nicht! Jedenfalls nicht bevor ich wenigstens einen Stimmbruch hatte. Der steht mir schließlich zu. Bis dahin befinde ich mich in meiner vorpubertären Phase und pflege meine Pickel”, sagte ich und gewann allmählich die Fassung zurück, schluckte die letzten aufkommenden Gluckser runter und putzte mir die Nase.
“Das Leben kann wirklich sehr komisch sein, Cindy, es sind immer die Kleinigkeiten, auf die es ankommt, die das Leben lebenswert machen. Sei mal etwas lockerer und spontaner, dann siehst du es auch”, tönte ich übermütig und leider nicht sonderlich taktvoll.
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