Helmut H. Schulz
1932
Ein deutsches Lesestück
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Inhaltsverzeichnis
Titel Helmut H. Schulz 1932 Ein deutsches Lesestück Dieses ebook wurde erstellt bei
Vorspiel
Von den Ursprüngen und den Übergängen
1. Kapitel
Berlin Juli 1932, im Salon der Baronin.
2. Kapitel
3. Kapitel
In der großen Veranda des Mietshauses in Zoppot, Ende August 1932
4. Kapitel
Im Salon des Hauses
5. Kapitel
Abendessen in Zoppot
Zwischenspiel.
6. Kapitel
Nach der Abreise des Anwaltes in Zoppot
Zwischenspiel
Präsidentenpalast Berlin
Zimmer des Reichspräsidenten
Reichskanzlei
Präsidentenpalast
Im alten deutschen Reichstag
Hotel Excelsior, 8. Dezember 1932
7. Kapitel
Nachspiel
Impressum neobooks
Der Tod, »Maître des hautes œuvres«, das heißt: Meister der hohen Werke, und das akademisch gebildete Mädchen beginnen einen Disput über Krieg und Frieden in dieser Welt ernsten Strebens, es geht um die Bestimmung des Homo erectus in der Periode des Scheiterns aller Hoffnungen um eine sittliche Erneuerung, die Zeit der Weltreligion des siegreichen monetären Bürgerstaates, der Abschaffung des Nationalismus in Europa, und ganz am Ende der Einrichtung einer gewaltlosen Welt, es geht um Tod und um Liebe, den alten Gegenspielern. Sie sprechen über Geschichte im allgemeinen wie im besonderen Fall des untergegangenen Occident, und der Meister der hohen Werke schließt seine Einlassung mit der Mahnung: Discite, moniti! Ihr seid gewarnt.
Das Mädchen: Lernt! Ihr seid gewarnt! Ich bin ganz einig mit Ihnen, wenn Sie den Krieg als Instrument des Fortschrittes betrachten, mit dessen Hilfe wir vom Niederen zum Höheren gelangen; kann man das Prinzip nicht abschaffen oder umgehen? Erfahrung führt schließlich auch zur Verbesserung der Übelstände. So war es gemeint. Ohne Zweifel befinden wir uns nach dem Scheitern aller sozialen Träume von einer Verbesserung an einem Endpunkt ohne Wiederkehr, segeln im Fahrwasser einer Art historischer Technokratie. Alles Irrationale sozialpolitischer Hoffnungen ist durch den bloßen techno-sozialen Fortschritt erledigt. Es gibt wahrscheinlich kaum ein Zeitalter, wie das unsrige, das so gut über alles Bescheid weiß, und mit Kompetenz reagiert. Und mit Verantwortung.
Der Tod: Ohne die Verhältnisse zu ändern. Fortschritt, Kompetenz, Verantwortung? Ich habe zwar die weibliche Sophistik geliebt, vermochte ihr aber nie zu folgen; sie scheint mir anderer Natur zu sein, als die männliche. Erklären Sie, was Sie meinen, wenn Sie vermögen, Magister Logika!
Das Mädchen: Beobachten wir ihn denn nicht, den Fortschritt? Sind wir denn nicht kompetent in der Beurteilung unserer Lage? Und fühlen wir denn nicht in jeder Sekunde unseres Daseins Verantwortung für alles auf der Welt, was uns angeht und mehr noch für das, was uns nichts angeht, für den wertloseren Nebenmenschen, für rassische, ethnische oder soziale Minoritäten? Haben wir denn nicht begriffen, dass uns, und zwar allüberall Kompromisse ziemen, nach dem Weltbürgerkrieg, den alle verloren haben, ausgenommen die Institutionen? Alle sind nunmehr gleich, unwiderruflich und anmaßend nachhaltig! Dass sich unser Glück nur bürgerlich vollenden kann, in täglicher Erfüllung unserer Pflichten, ist das nicht die schwer errungene Weisheit unserer moralischen Geschichte?
Der Tod : Sie sind die Lethargie, die das magere Ergebnis misslungener sozialer Experimente etwas hilflos als vernünftig bezeichnet. Ihr Mitgefühl mit den Randgruppen, wie Sie in Ermangelung eines genaueren Begriffes den stinkenden faulen Bodensatz elender Minderheiten vor sich selbst nennen, ist bloße Sentimentalität, bestenfalls der Ausdruck Ihrer Ratlosigkeit. Kriege haben stets mit dem Überfluss unwerten Lebens aufgeräumt. Reden Sie mir nicht von Liebe. Sie und ich, die wir uns immer auf einer Schattenlinie treffen, einem hohen, dem höchsten mythischen Ort allen Daseins, müssen bekennen: Unsere Doppelgestalt ist ewig, und so Ihr Euch an uns haltet, werdet Ihr leben! Aber sie haben den Pakt mit mir aufgekündigt. Die kalten Schauer, die mein Erscheinen auslöst, unterscheiden sich in nichts von den Flammen der Liebe, die ich Euch einst geschenkt habe. Alles Dasein vollendet sich in mir. Ich bin die Liebe und das Leben könnte auch heißen: Ich bin die Liebe und der Tod.
Das Mädchen: Sie sind bloß Rhetor, Dialektiker, Demagoge. Ihre Anhänger haben im historischen Scheitelpunkt des Todesmythos allen Respekt vor ihrem Gott preisgegeben, der Leben wollte, nicht den Tod. Und Sie sind eitel, Sie lieben das Rollenspiel, geben bald die Knochengestalt oder den träumenden Knaben; Ihr Wesen ist im Grunde narzisstisch, am meisten liegt Ihnen die Rolle des Scharfrichters. Aber Sie sind ein Anachronismus, überlebt. Niemand glaubt Ihnen noch, keiner will Sie mehr.
Der Tod: Welch ein Irrtum, Magister Simpel! Verzeihlich zwar, weil Sie nur das Jetzt, nur das Reale zu akzeptieren gelernt haben, den ewigen Fötus im Bauch wie im Kopf, der nicht hinauskann und doch sterben darf, mich aber können Sie in vieler Gestalt treffen, ich bin auch der Lebendige, das Altertum wies mir ein eigenes Reich zu, und die Christen übernahmen darin die Statthalterschaft, nicht die Herrschaft, wie sie womöglich wähnten. Niemand entthront mich, ich bin noch immer allgegenwärtig, real und im Kultus.
Das Mädchen: Das neunzehnte Jahrhundert hatte uns diese Sehnsucht nach dem Liebestod beschert; die Erfahrungen des zweiten Jahrtausend haben uns davon wieder geheilt. Soll ich vielleicht Eurer Ehrbarkeit mit Tatsachen aufhelfen? Entbrennt irgendwo ein überflüssiger Krieg, so ist die ganze Welt dabei, mit Armeen einzuspringen, um Frieden zu stiften. Wann hat man das wohl gesehen, solange Sie herrschten?
Der Tod : In der Antike. Eine Erfindung der Römer. Der Trick ist uralt; die Großmacht im friedensstiftenden Gewand lässt zunächst einen kleinen Partner den Konflikt mit jenem Staat auslösen, der vernichtet werden soll. Dann kommt Rom, um Ordnung zu schaffen, Roma locuta und bleibt natürlich ein wenig. Man teilt die Beute zwar ein wenig ungleich, aber der Zweck wurde erreicht. Die Unterlegenen müssen wohl oder übel anerkennen, was Rom die Pax romana nannte. Überflüssige Kriege gibt es nicht; wo sie ausbrechen, gehen sie auf Ursachen zurück.
Das Mädchen: Kaum, uns hat die erste Hälfte dieses Jahrhunderts die Augen geöffnet. Nie wieder Krieg, nie mehr Nationalismus, nie mehr Euthanasie; wir wissen Bescheid.
Der Tod: Wie steht es denn? Der geschichtlich handelnde Mensch in der Periode vor dem Untergang dieses Europa schimmert angesichts der Papierberge aus Rechtfertigungen und Schuldbekenntnissen, aus Unsinn und Unterwerfung nur wie durch Milchglas. Die so Belehrten starren gebannt auf die tanzenden Schatten an der gegenüberliegenden Wand ihrer Angsthölle. Ich nehme an, dass Ihnen dieses alte Gleichnis nicht fremd ist, Magister. Einer meiner griechischen Schüler hat es gefunden. Ich fand es nicht schlecht. Und Sie? Wie finden Sie es?
Das Mädchen: Was haben Sie damit im Sinn? Woran denken Sie, Erbe und Enkel eines Reiches, das sich durch Negation und Nichtexistenz auszeichnet? Ihre Griechen haben Sie mehr gefürchtet, als ihren obersten Gott.
Der Tod: Wohl, aber Sie verwechseln da etwas, meine Dame. Plutos Reich war nie das meine. Ich bin Universalist. Nein, ich denke über euren Hochmut nach, daran, dass ihr im erdnahen Raum Blech montiert und in den Himmel schießt, und Eroberung des Weltraumes nennt. Kaum wäre die Ansiedlung von Menschen auf einem erkalteten Stern geschehen, würden die Kolonisatoren einander ausrotten; ihr hättet das Lebensgesetz in den Orbit mitgenommen; darum ist alles, was entsteht, auch wert, dass es zugrunde geht, und besser wär’s, dass nicht entstünde, und so weiter … Ich denke daran, dass eure Informationsgesellschaft aus Individuen besteht, die desorientierter sind, als selbst der Mensch nach dem Schöpfungsplan in der grauen Vorzeit. Was die historische Bearbeitung betrifft, so habt ihr euren Beobachtern die Fesseln des Vorurteils angelegt, lasst sie am langen Seil einer imaginären Schuld voran tasten, und wendet, um euch selbst zirkulierend, an den Landmarken des Dogmas wieder in den Kreis des Irrtums und der Verblendung zurück.
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