„Die Polizei weiß noch nicht genau, was geschehen ist. Der Junge wurde mit einem Messer im Bauch auf dem Joggingpfad gefunden. Sie haben ihn sofort mit einem Rettungswagen ins Krankenhaus gebracht.“
„Das ist ja widerlich!“
„Ja“, bestätigte ihre Mutter. „Da schau nur, sie bringen den Bericht erneut. Der Junge sieht richtig niedlich aus.“
Laura traute ihren Augen nicht, als sie zum Bildschirm blickte. Sie hatte das Gefühl, als würde ihr jemand einen Kübel Eiswasser ins Gesicht kippen. Plötzlich war sie hellwach.
Sie starrte ihre Mutter erschrocken an, dann wieder auf das Bild im Fernsehen, von dem die Nachrichtensprecherin über den Vorfall berichtete. Vielleicht ist es nur jemand, der ihm ähnlich sieht, dachte sie.
„Was ist los?“, erkundigte sich ihre Mutter.
„Er sieht aus wie...“, stammelte Laura.
In diesem Augenblick wurde der Name des Opfers wiederholt: Fabian S. aus Gauting bei München.
Laura fühlte, wie ihr das Blut aus dem Kopf wich. Es war Fabian! Oh Gott, sie konnte es nicht glauben. Er war es wirklich!
„Laura, Schatz, ist alles in Ordnung?“
Sie antwortete nicht, sie konnte nichts anderes tun, als auf den Bildschirm zu starren, wo indessen der Wetterbericht durchgegeben wurde.
„Laura, du kanntest diesen Jungen?“
Irgendwie schaffte sie es zu nicken. In ihrem Kopf drehte sich alles. Sie hatte erst gestern Nacht mit ihm geredet, mit ihm gelacht und ihn geküsst.
„Gestern Abend...“, flüsterte sie und sah ihre Mutter benommen an, die den Fernseher jetzt ausmachte.
„Du warst gestern Abend mit ihm zusammen?“, fragte ihre Mutter.
Laura nickte wieder. Sie konnte einfach nicht weiterreden, legte eine Hand vor den Mund, weil ihr plötzlich schlecht wurde.
„Ist alles in Ordnung, Schatz?“, erkundigte sich ihre Mutter erneut. „Du siehst schrecklich aus.“
„Ich fühle mich auch fürchterlich“, bestätigte Laura. „Vielleicht gehe ich besser wieder ins Bett.“
„Ja, mach das“, antwortete ihre Mutter. „Ich bringe dir noch einen Tee und etwas zum Essen.“
Vollkommen durcheinander ging Laura in ihr Zimmer zurück. Sie legte sich ins Bett und wickelte sich wie eine Mumie in die Decke ein. Aber sie schaffte es nicht einzuschlafen. Dabei sehnte sie sich verzweifelt danach, der Realität für eine Weile entfliehen zu können.
Schließlich schlief sie doch ein.
Als sie Stunden später aufwachte, war es, weil ihre Mutter sie sachte berührte.
„Ein Mann von der Kriminalpolizei ist hier und möchte mit dir sprechen“, flüsterte ihre Mutter.
Was folgte, bekam Laura nur halb mit, so benommen fühlte sie sich noch. Kriminalhauptkommissar (KHK) Albrecht Schubert vom Kriminalfachdezernat 1 aus München war ein kleiner untersetzter Mann mit intelligenten Augen. Er schoss in kurzer Folge eine Frage nach der anderen auf sie ab.
Wann haben Sie Fabian S. zuletzt gesehen?
Wo haben Sie ihn zuletzt gesehen?
Worüber haben Sie beide gesprochen?
Hatten Sie einen Streit?
Sind Sie ein Liebespaar?
Wie lange kannten Sie ihn schon?
Die Fragen waren endlos. Schließlich, es schien Stunden gedauert zu haben, obwohl ihre Mutter ihr später sagte, dass es nur dreißig Minuten gewesen waren, beendete der Ermittler seinen Besuch.
Laura legte sich wieder zurück in ihr Bett. Er verdächtigt mich, dachte sie leicht erstaunt. Jemand muss dem Kommissar von ihrem gestrigen Date berichtet haben. Wahrscheinlich war sie die Letzte gewesen, die ihn vor dem Attentat gesehen hatte.
Armer Fabian, dachte sie.
Ihr kamen die Tränen und tropften unaufhörlich auf ihr Kissen. Sie musste sich dringend erkundigen, wie es ihm geht.
Wer konnte etwas wissen?
Vielleicht hat Cedric zu Fabians Familie Kontakt.
Sie beschloss daher, schnellstmöglich Cedric anzurufen.
Am nächsten Morgen war die Wut von Cedric noch nicht verraucht.
Laura hatte Fabian geküsst!
Was hat dieser Mistkerl, das ich nicht habe?
Missmutig und lustlos schaufelte er das Müsli mit dem frischen Obst in sich hinein.
„Was ist denn mit dir los?“, fragte ihn seine Mutter erstaunt. „War´s gestern Abend nicht schön?“
„Nicht besonders.“
„Aber warum triffst du dich dann immer weiter mit Michelle, wenn dir die gemeinsamen Abende nicht gefallen?“
„Weiß nicht.“
„Mir gefällt Laura besser. Ich finde sie süß.“
„Die süße Laura!“, explodierte Cedric. „Wie kommst du nur auf den Schwachsinn? Woher willst du wissen, was Sache ist? Du hast ja keine Ahnung!“
„Warum triffst du dich also mit Michelle?“
„Ich habe schon meine Gründe“, antwortete Cedric.
„Nämlich?“
„Ach, lass mich doch in Frieden!“
Wütend verließ Cedric die Küche. Warum mussten sich immer alle in seine Angelegenheiten einmischen?
Außerdem musste er jetzt unbedingt Laura anrufen.
Das war wichtig!
Irgendjemand musste dieses Mädchen endlich zur Vernunft bringen und ihr sagen, wie albern es war, mit Fabian herum zu flirten.
Nervös wählte er ihre Nummer.
„Cedric? Weißt du, wie es Fabian geht?“, vernahm er ihre völlig verschlafene Stimme.
Sie dachte nur an Fabian! Cedric spürte, wie sich sein Magen vor Wut verkrampfte.
„Du kannst wohl nur an Fabian denken!“
„Was meinst du? Weißt du, wie es ihm geht?“, fragte sie stotternd.
„Du hast ihn geküsst!“
„Was hat das damit zu tun?“
Ihre Verwirrung stieg. Was sollte der Anruf von Cedric? Wichtig war, ob Fabian den Angriff mit dem Messer überlebt hat!
„Ja, ich finde, der Kuss war unter deiner Würde!“
„Was regst du dich so auf, Cedric?“
Ihre Stimme klang gefährlich leise. Langsam wurde sie zornig.
„Komm, sei nicht gleich sauer, Laura“, beschwichtigte er sie schnell. „Ich meine es doch nur gut mit dir. Du hast dich gestern blöd benommen.“
„Nun hör mal gut zu: Ich sah bestimmt nicht annähernd so beknackt aus wie diese Michelle, mit der du durch die Gegend ziehst!“
„Das ist etwas ganz anderes. Wir sprechen jetzt nicht über Michelle, sondern über dich.“
„Falsch, Cedric. Wir sprechen nicht über mich, sondern wir haben über mich gesprochen. Das Thema ist für mich beendet!“
„Mensch, Laura, was soll das ganze Getue?“
„Weißt du nun, wie es Fabian geht? Wird er den Angriff überleben?“
„Überleben?“, stotterte Cedric verwirrt. „Was für einen Angriff?“
„Du weißt nichts davon?“
„Nein! Was ist denn geschehen?“
„Fabian wurde heute Morgen beim Joggen angegriffen und mit einem Messer verletzt. Er liegt im Krankenhaus!“
„Mist! Verdammt! Entschuldige, Laura, ich versuche, etwas herauszubekommen.“
„Gib mir Bescheid, wenn du etwas erfahren hast.“
„Ja, klar“, antwortete Cedric. „Ich melde mich.“
Den Rest des Tages machte sich Cedric große Vorwürfe, sich so unbedacht verhalten zu haben.
Er hatte Laura beschimpft, obwohl sie sich Sorgen um Fabian machte, der schwerverletzt im Krankenhaus lag. Ob er überleben würde, war noch völlig offen. Cedric hatte nur kurz mit dem älteren Bruder von Fabian telefonieren können. Keiner wusste etwas Genaues.
Kurz darauf rief er Laura an. Er erzählte ihr, was er erfahren hatte. Sie hatte gereizt und genervt geklungen, etwas von einem Polizisten erzählt, der sie gerade befragen würde.
Später hatte er nur noch mit ihrer Mutter telefoniert. Laura würde tief schlafen und könnte nicht mehr mit ihm sprechen.
Am nächsten Morgen sah Cedric sie in der Pausenhalle mit Paul und Bernd zusammenstehen.
Er ging zu ihr und versuchte, sie beiseite zu ziehen.
„Hey, Laura, ich muss unbedingt mit dir reden.“
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