Und schon ist der Trubel groß. Maria und ich sehen uns schon grinsend an, da wir immer in einer Gruppe sind, von daher brauchen wir nur noch zwei weitere Mitglieder.
„Wie wäre es mit Patricia?“, fragt Maria mich und sieht nach ihr. Doch im selben Moment sehen wir, dass sie bereits in einer Gruppe mit den anderen Mädchen ist.
Wir seufzen beide. Wir sind nur sechs Mädchen in der Klasse und das bedeutet, dass Maria und ich mit zwei Jungs eine Gruppe bilden müssen.
„Ich frage Julien“, sagt Maria und will gerade aufstehen, als wir wieder feststellen müssen, dass auch Julien gerade eine Gruppe mit ein paar Jungs gebildet hat.
Ich sehe mich um, wer noch allein sitzt, und mein Blick fällt auf Nathan, der mit trüben Augen auf die Schere in seiner Hand starrt, womit er gedankenverloren rumspielt. „Wie wäre es mit Nathan?“, frage ich Maria, halte meinen Blick aber auf ihm. Er ist immer allein und bei Gruppenarbeiten merkt man erst, wie unerwünscht er tatsächlich in unserer Klasse ist. Deswegen nutze ich die Chance, um ihm zu zeigen, dass nicht jeder etwas gegen ihn hat.
„Nathan? Der ist komisch, mit dem will ich nicht in einer Gruppe sein. Wer weiß, ob er uns auch verprügelt, wenn wir seine Spielideen nicht annehmen.“ Maria sieht ängstlich zu ihm rüber.
Sie redet über den Vorfall letzte Woche. Nathan hat sich mit einem Jungen aus der vierten Klasse geprügelt, den genauen Grund wissen wir leider nicht, aber es wird erzählt, dass Nathan ihn ohne Anlass geärgert hat und dann ist die Sache ausgeartet. Er gerät oft in Prügeleien mit Mitschülern und jedes Mal heißt es, dass er der Auslöser sei. Manchmal weiß ich nicht, ob das die Wahrheit ist, denn Nathan ist ein stiller Junge. Wenn man nicht mit ihm redet, schweigt er den ganzen Tag. Wie er immer wieder in Streitigkeiten mit anderen Jungs gerät, wundert mich schon seit der ersten Klasse.
„Maria, Honor, habt ihr noch keine Partner?“, ruft Misses Hatheway zu uns.
Wir schütteln beide den Kopf.
Sie sieht sich im Raum um, dann sagt sie: „Ah, Nathan und Jimmy sind noch allein. Setzt euch bitte zusammen.“
Sofort will ich nicht mehr in Gruppen zusammenarbeiten. Jimmy in meiner Gruppe? Er wird doch ständig wieder abwertende Kommentare über mein Kleid machen und mich Heuschrecke nennen, mir an den Haaren ziehen oder aus Versehen mein Kleid bemalen.
Jimmy kommt schon mit einem gemeinen Lächeln an unseren Tisch, während Nathan sitzen bleibt und anscheinend gar nicht mitbekommen hat, dass wir eine Gruppe bilden sollen. „Na, Heuschrecke“, feixt Jimmy und setzt sich mit einem Stuhl an Marias und meinen Tisch.
„Sie ist keine Heuschrecke“, verteidigt Maria mich mutig, während ich nur eingeschüchtert den Kopf hängen lasse und bete, dass der Tag so schnell wie möglich rumgeht.
„Sie sieht aber aus wie eine.“ Jimmy greift über den Tisch zu der Schleife meines Kleides vor meiner Brust und zieht daran.
„Hey, lass das“, jammere ich und will seine Hand wegstoßen, damit er die schöne Schleife nicht abreißt. „Das habe ich zum Geburtstag bekommen!“
Und genau in dem Moment, als ich schon das erste Reißen gehört habe, fällt ein Mäppchen auf unseren Tisch und Nathan lässt sich gleichgültig auf einen Stuhl neben Jimmy sinken. Jimmy erschrickt und lässt sofort meine Schleife los. Zum Glück. Er rutscht weiter weg von Nathan und ein ängstlicher Ausdruck schleicht sich auf sein Gesicht, während Nathan nur auf die Tischplatte starrt und die Arme verschränkt. Jimmy hat Angst vor ihm. Wie jeder andere. Alle wissen, dass Nathan sich oft prügelt und gewalttätig ist, deshalb will niemand mit ihm reden, weil sie nicht die Nächsten sein wollen, die von ihm gehauen werden. Und durch Nathans ständige blaue Flecken an Armen und Hals, im Gesicht und der kleinen Narbe unter seinem rechten Auge, wirkt er noch gefährlicher.
„Okay, fangen wir an“, beendet Maria die Stille und holt einen Schreibblock aus ihrem Schulranzen. „Wer möchte schreiben?“
Alle schweigen. Ich, weil ich Angst vor Jimmy habe, Jimmy, weil er Angst vor Nathan hat und Nathan, weil er noch immer desinteressiert auf den Tisch starrt.
„Dann schreibe ich.“ Maria holt ihren Füller heraus. „Habt ihr Ideen?“
„Wie wäre es mit Reise nach Jerusalem?“, frage ich lächelnd, weil ich dieses Spiel liebe.
„Das kann man nur in kleinen Gruppen spielen, dumme Heuschrecke“, wirft Jimmy ein.
Sofort schweige ich wieder und sehe verängstigt auf meine Finger. Er kann es einfach nicht lassen.
„Das stimmt doch gar nicht.“ Maria schreibt meine Idee auf den Zettel. „Das Spiel kannst du mit so vielen spielen, wie du willst, du dummer Rotkopf.“ Sie spielt auf Jimmys orangerotes Haar an.
Bei seinem Aussehen würde man nie denken, dass er so gemein sein kann. Sein Gesicht ist voller Sommersprossen, seine Haut blass, er sieht eigentlich lieb aus. Bis er den Mund öffnet. Dann ist er einfach nur fies.
„Halt die Klappe, du langweilige Kirchentussi“, motzt Jimmy zurück und zieht Maria den Füller aus der Hand, worauf sie einen dicken Strich über ihr Blatt malt.
„Hey, lass das!“ Ich versuche, nach dem Füller zu greifen, doch er hält ihn hinter sich.
„Was, wenn nicht?“ Er sieht mich gespielt schmollend an. „Heulst du dann wieder und lässt dich von Misses Hatheway wie ein kleines Baby behandeln, Heuschrecke?“
Sofort beginnt meine Unterlippe zu zittern. „Ich bin keine Heuschrecke“, gebe ich mit weinerlicher Stimme zurück, versuche, nicht zu weinen.
„Doch bist du. Und du bist genauso hässlich wie dieses hässliche Kleid, du Heulsuse.“
„Ich bin nicht hässlich“, schniefe ich leise. Papa sagt immer, ich sei hübsch, egal, was Jimmy sagt.
Als Maria erneut nach dem Füller greifen will, nimmt Jimmy die Feder und drückt sie fest auf den Tisch, sodass sie sich völlig verbiegt.
„Bist du blöd?“, schreit Maria und zieht ihm jetzt den Füller aus der Hand. „Du hast ihn kaputt gemacht!“
„Was ist denn hier schon wieder los?“ Misses Hatheway steht mit verschränkten Armen an unserem Tisch. Ich sehe sie flehend an und bitte sie mit meinen verweinten Augen darum, mich einfach nach Hause gehen zu lassen. „Solltet ihr nicht arbeiten? Stattdessen streitet ihr euch wieder! Jimmy, wie oft habe ich dir gesagt, du sollst die Mädchen in Ruhe lassen!“
„Jimmy hat meinen Füller kaputt gemacht“, sagt Maria und hält zornig ihren Stift in die Luft.
Misses Hatheway nimmt ihn und sieht ihn sich an. Dann sieht sie erbost zu Jimmy. „Wieso hast du das getan? Du kannst doch nicht einfach die Schulutensilien deiner Mitschülerinnen zerstören!“
Jimmy hat sofort wieder diesen typisch unschuldigen Blick auf dem Gesicht, mit dem man meinen könnte, er wäre der Engel höchstpersönlich. „Ich war das nicht, Misses Hatheway“, sagt er mit Glitzern in den Augen.
„Ach ja? Wer soll es denn sonst gewesen sein?“
Jimmy öffnet den Mund und scheint zu überlegen. Ich sehe ihn ungläubig an. Er hat den Füller kaputt gemacht! „Nathan war es!“, sagt er schließlich empört und zeigt auf Nathan, der immer noch schweigend und resigniert neben ihm sitzt. Er regt sich kein Stück. Als hätte er gewusst, dass Jimmy ihm die Schuld geben würde.
„Was?“, ruft Misses Hatheway aus. „Nathan schon wieder!“ Sie geht um den Tisch herum und haut den kaputten Füller vor Nathan darauf, worauf er mit müden Augen zu ihr aufblickt. „Ich hätte es mir ja schon fast denken können! Du kommst mit zum Rektor, ständig zerstörst du die Sachen der anderen!“
„Aber Nathan war es nicht“, lasse ich sie kleinlaut wissen, worauf Jimmy mich mit zusammengekniffenen Augen ansieht. „Es war Jimmy.“
„Schon gut, Honor“, wütet sie und zieht Nathan am Arm von seinem Stuhl. Sein Blick ist noch immer so gleichgültig, als wäre er ein Schlafwandler. „Nathan kann es einfach nicht lassen.“ Sie sieht ihn böse an. „Das ist das letzte Mal, dass du so frech bist! Der Rektor wird deine Eltern anrufen!“
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