Mein Plan blieb vage. Wie kam ich an den Flieger überhaupt heran, damit ich ihn besteigen konnte? Sollte ich ihn verletzten wie die Navere, um ihn mir gefügig zu machen? Was, wenn ich ihn verletzte und er nicht mehr fliegen konnte? Dann schuf ich nur großes Leid.
Ich jagte viel und überließ die zappelnde Beute meinen geifernden Begleitern, was eine Naverensippe nutzte. Die wunderbaren Springwunder weiteten ihre Jagdbeute auf satte schwerfällige Sturzkrallen aus. Das hatte ich nicht gewollt. Ich roch stark nach Naveren, sodass sie mich übersahen, oder die humpelnde Schönheit beschützte mich. Die Erdjäger dünnten die Luftjäger ziemlich aus und ich erreichte gar nichts. Das machte mich so wütend, dass ich den Sturzflug eines Jägers mit sechs Schwingen auf einen sechsbeinigen Jäger zuerst nicht bemerkte.
Kein Schreien, kein Flügelschlag, kein Schatten.
Meine Ohren hörten ein leises Summen. Als ich hoch sah, war es fast zu spät. Mit angelegten Flügeln schoss die Schwarzfeder auf die springende Sippe zu. Bald musste er sie öffnen, um den Sturz abzufangen. Er flog herab wie ein Stein, den jemand von oben nach unten warf und dadurch schneller wurde. Die Luft wurde schlagartig schwerer, dicker, fast als hätte jemand sie in Brei verwandelt. Um den stürzenden Körper herum flimmerte etwas Blaues. Mittlerweile drückte mich schwere Luft fast zu Boden. Ich blieb stehen. Die Naveren jaulten und alle anderen Lebewesen in der Umgebung.
DAL wärmte meinen Arm. Die Hand und der Stock leuchteten weiß. Meine Naveren starben. Alle Wesen am Boden schrien. Wütend, weil ich nichts verstand, warf ich den Stock dem Vogel entgegen. Dann stieß mich eine unsichtbare Kraft zu Boden. Ich keuchte und japste nach Luft, als ob ich den Belt an einem Tag schwimmend durchquert hätte. Das Gewicht eines Berges lag auf mir. Ich schüttelte den Kopf, wehrte die beginnende Bewusstlosigkeit ab. Die Schwarzfeder starb mit einem Kreischen, als sei die gesamte Luft ein Laut, der die Knochen aller Lebewesen zersplitterte.
Der Druck war fort. Es war unnatürlich ruhig. Der Tod ist immer still. Ich richtete mich auf. Der Herrscher der Lüfte lag mit verrenktem Hals und gebrochenen Flügeln am Boden. Sein Schädel und der gefiederte Körper waren aufgeplatzt, wie alle Lebewesen im näheren Umkreis – bis auf mich. Was hatte mich beschützt? Die Naveren rührten sich nicht. Eine steinerne Faust schien sie zu Boden und Brei geschlagen zu haben. Verspritztes Blut bedeckte den Boden und auch mich.
Mochte die Begegnung mit dem Armowass mich auf das Undenkbare vorbereitet haben, erschien mir die Kraft jetzt grauenhaft und böse, widerwärtig. Ich übergab mich.
Ein blau schimmernder Schleier bedeckte die beiden schwarzen Federflügel. Als ich genauer hinsah, bestand der Belag aus tausenden kleinen noch lebenden Laubbaumblättern, die durchsichtig waren.
Ich stand auf und näherte mich dem Wesen. DAL brannte und wechselte von weiß auf alle möglichen und unmöglichen Farben. Aber er tat mir nicht weh.
Die Blätter zitterten, schienen Augen und Ohren zu sein. Sie waren mit meinem Armband und mir das einzige Lebendige im weiten Umkreis. Ich vermisste die Stimmen der Wildnis. Die Blätter richteten sich auf, wandten sich mir zu und schienen jeden Schritt, den ich tat, zu verfolgen. Es hatte die Luft beherrscht, sie dicht und schwer gemacht, dass alle Wesen außer mir am Boden zermalmt wurden. Wie der Armowass das Wasser beherrschte, es dichter machen konnte, damit er an die Oberfläche kam, ohne am geringeren Druck zu sterben, schien der Blätterschleier die Luft zu beherrschen – nein.
Der Schleier war deren DAL. Mit ihm konnten sie in der Luft stehen, brauchten nie landen.
Ich war verwirrt. Im Norden rissen Naveren Schwarzfedern. Ich sah die Gemetzel. Aber wenn sie über die Kraft verfügten, alle Wesen hier zu Brei zu schlagen, warum geschah dies nicht im Norden?
Misstrauisch betrachtete ich DAL. Er zwickte mich und leuchtete nach wie vor abwechselnd in allen Farben. Ich stand vor dem toten Vogelkörper. Sein Leib war durchbohrt. Holzsplitter lagen verstreut umher. War das mein Stock gewesen?
Obwohl jedes Blatt mich zu beäugen schien, hoben und senkten sie sich, während sie durchsichtiger wurden.
Ich kniete nieder.
Mein Plan war hinüber. Tote Naveren und tote Vögel lagen um mich herum. Ich führte meine rechte Hand sachte an ein Augenblatt heran. Ich erwartete einen Knall oder eine Explosion, aber es wich aus, zog sich vor meiner Hand zurück. Ich verharrte und wartete vergeblich darauf, dass der Schleier einen Kontakt suchte.
„Es tut mir leid!“, sagte ich. „Das wollte ich nicht.“ Ich zeigte auf die toten Körper. Wenn ich eine Reaktion erwartete, so wurde ich enttäuscht. Ich hielt meinen Wurm an den Schleier. Sofort jagte er Schmerz in den Arm, in meine Schulter und in meine Brust. Der Stich fraß sich weiter in meinen Hals und den linken Arm.
Die Blätter wirbelten plötzlich um mich herum. Das Wesen hüllte mich ein. Meine Beine brannten. Ich schien von Kopf bis zu den Zehen aus Flammen zu bestehen. Ein Feuer, das die Luft fraß. Ich konnte nicht schreien. Es gab keine Luft, um meine Lungen zu füllen. Ich stand an Land und konnte nicht atmen, als ob ich tief im Belt tauchte.
Das Wesen wollte mich töten.
Die Luft anhaltend ruderte ich mit den Armen, um die Blätter weg zu schlagen. Der Schleier riss mich zu Boden. Dort war wieder Luft zum Atmen. Ich hustete und keuchte. So übermächtig wie der Armowass schien das Blattwesen nicht zu sein. Die durchsichtigen Blätter konnten Luft fort kräfftern, besaßen aber nicht die Ausdauer, mich zu töten. Ich hatte Mitleid.
Ich hauchte die Blätter an. Meinem Atem konnten sie nicht entkommen. Das Zittern verebbte. Ich blies es wieder an. Das Wesen wölbte sich. Ich atmete kräftiger ein und aus. Es blieb dabei, egal, wie oft ich pustete.
„Ich bin Artir. Wie heißt du?“, fragte ich die glotzenden Blätter. „Warum willst du mich umbringen? Was habe ich dir getan?“ Ich erwartete keine Antworten und bekam auch keine. Ich beobachtete. Das Zittern begann wieder und einzelne Blätter zerfielen. Ich konnte dem Wesen nicht helfen. Ich sah zu den Naveren. Drei Männchen und drei Weibchen, zwei Babies. Ich ging zu ihnen hin und tastete die Körper ab, suchte Lebenszeichen. Ein Mauzen. Ich hechtete zu einer Navere, meiner Navere. Zwischen ihren Beinen regte sich ein Knäuel, das abermals miaute. Das Junge war lang wie meine Elle, vielleicht fünf Monate alt. Ich befreite es aus den toten Hinterbeinen und hielt es hoch. Es schien unversehrt, bis ich den tiefen Kratzer im vorderen Bein sah. Ich riss einige Gräser ab, umwickelte das Bein, bis die Blutung aufhörte und knotete die zähen Halme zusammen. Das Baby blieb liegen und schnüffelte an meiner Hand. Starre Augen der Mutter klagten mich an. Da konnte ich nichts mehr tun.
Ein tausend blättriges Wesen, dass mich töten wollte, und ein verletztes Naverenbaby, das den Tag ohne mich nicht überleben würde. Das hatte ich ja prächtig hin bekommen.
Ich sah nach oben. Es konnte nur wenig Zeit vergangen sein, aber über mir und um mich herum braute sich etwas zusammen. Meine Ohren hörten Krallen, die im Laufschritt die Erde zerfurchten, und Flügel, die im Sturzflug auf mich zu hielten. Mein Stock war fort. Ich griff das Junge, nahm aus seinem Maul Spucke und rieb mich ein. Es leckte zum Dank mein Gesicht wund. Das Junge setzte ich ab. Der kleine Naveren fauchte das Blatt an. Sein Garma schien einen Feind zu erkennen. Dann humpelte es umher, nicht weit weg von mir.
Wenn das Blattwesen die Luft beherrschte, sodass mir die Luft weg blieb und Schwarzfedern unnatürliche Sturzflüge ermöglichte, dann musste es sich auf irgendeine Weise verständigen. Dass sich über mir Vögel aller Größen sammelten, wie ich nie gesehen hatte, ließ mich keinen Augenblick daran zweifeln, dass das Blattwesen für die Ansammlung verantwortlich war.
Читать дальше