Als er das Gerät zurück gab, fasste er sich an den Kopf, so, als ob ihm gerade etwas ganz Wichtiges eingefallen war.
„Sagen Sie, Herr Kollege, ist Ihnen nicht auch aufgefallen, dass in dem Schlauchboot ziemlich viel Sand war? Hier gibt es keinen Sand! Der Tote und seine Begleiterin müssen vom anderen Ufer, vom Ostufer her gekommen sein. Möglicherweise vom ADAC-Strand. Da gibt es diesen feinen Sand. Also müssen wir so schnell wie möglich da hin. Vielleicht gibt es noch Zeugen, die was gesehen haben. Manche kampieren da ja auch über Nacht!“
Wieder nahm er Kontakt mit Elsterhorst auf. Er versuche jetzt, so schnell wie möglich festen Boden unter die Füße zu bekommen und sich dann ans Ostufer fahren zu lassen, um dort eventuell noch Zeugen zu finden, die gesehen haben könnten, wie der Bursche und wahrscheinlich auch seine Freundin von dort in den See hinausgefahren sind. Er, Elsterhorst, möge doch hier die Spuren sichern lassen und den Einsatz weiterhin leiten.
Auf seinem Weg zum Ufer fischte er noch ein paar Papiertaschentücher aus dem Schilf, brachte es aber nicht fertig, sie in die üblichen Plastiktütchen rutschen zu lassen. Dafür waren seine Hände zu nass und eingesaut.
Endlich, endlich kam eine Wiese in Sicht, und da sah er auch schon seinen Kollegen Elsterhorst, der Rinaldo wegen der brütenden Vögel an die Leine genommen hatte und jetzt beinahe umgerissen wurde. Rinaldo und Velmond mochten sich sehr. Mehr als sich die beiden Kollegen zugetan waren. So fiel auch deren Begrüßung knapp und dienstlich aus, zumal beide spontan auf ein Wiesenstück zu steuerten, wo völlig unverkennbar ein Mensch oder deren mehrere gelagert hatten: plattgedrücktes, stellenweise zerwühltes Gras, Zigarettenschachteln, ein von einer Kekspackung abgerissenes Stück dünne Pappe.
Elsterhorst, der noch „stadtfein“ daher kam, zog sich die Vinylhandschuhe über, hob alles auf und ließ es in die Tütchen gleiten.
„Halt! Da steht was drauf!“ Velmond griff nach dem Fundstück.
Mit erdigen Fingern hatte jemand „HELP“ darauf geschmiert.
„Kollege, das sieht ganz danach aus, als ob ein Kampf stattgefunden hätte. Das überlasse ich jetzt Ihnen. Ich lasse mich ganz schnell ans Ostufer fahren, ehe es ganz dunkel wird!“
Als Velmond zum Parkplatz kam, traf er dort - wenig überrascht - auf Judith Schwertfeger, die in ihrem Auto Musik hörte. Sie hatte also ihren Freund Elsterhorst hierher gebracht. Sie begrüßten sich wie alte Bekannte.
„Ich brauche ganz, ganz schnell jemanden, der mich zum Ostufer hinüber fährt!“
„Na klar, mache ich doch!“ Frau Schwertfeger hatte immer schon ein Auge auf Lothar Velmond geworfen, weil der soviel netter und aufmerksamer zu ihr war als der spröde Maurice. Er erwies sich halt stets als ein Kavalier der alten Schule.
Als sie nach der kurvenreichen, von vielen kleinen Kreuzen und flackernden Kerzen gesäumten Strecke über Seeshaupt endlich den ADAC-Parkplatz erreichten, war es schon sehr dämmrig. Velmond hatte kein Blaulicht mitgenommen, das sie hätten aufs Dach stellen können. So gab es Ärger, als er Frau Schwertfeger fast bis zum Strand durchfahren ließ.
Am Ufer hatten einige schon Feuerchen entzündet. Manche hatten sogar Fackeln dabei und Lampions. Velmond und Frau Schwertfeger schwärmten aus, um möglichst schnell möglichst viele der noch hier Lagernden zu befragen.
„Waren Sie gestern nachmittag auch hier? Ist Ihnen ein Pärchen aufgefallen, das mit einem dunkelblauen Schlauchboot Marke Seagull aufgebrochen ist? Mit drei großen Plastiktüten von NORMA? Und ganz schön viel Getränken?“
Auf der Fahrt hatten sie diese Fragen eingeübt. Falls jemand „Warum?“ fragen sollte, als Antwort: „Die beiden werden vermisst!“
„Fragen Sie doch mal beim Kiosk! Die werden vielleicht nicht den ganzen Proviant mitgebracht haben!“ Eine gute Anregung, jedoch hatte der Kiosk bereits geschlossen. Aber bei einer Gruppe junger Burschen kamen sie der Sache näher:
„Ja, die mit diesem komischen Gummiboot sind uns schon aufgefallen. Das Boot lag nämlich schon seit dem Vormittag an diesen Baum da, festgebunden. Als die beiden ankamen, na klar, die hatten solche NORMA-Tüten, da waren die ausgelassen, als hätten sie gerade das Abitur bestanden oder seien von zuhause ausgekniffen. Als erstes haben sie eine Flasche Sekt entkorkt, obwohl sie bereits ziemlich bekifft ausgesehen haben. Natürlich ging die Hälfte daneben, als der Korken rausflog. Es war ja warm und die Flasche sicher geschüttelt. Dann haben sie ihr Zeug in die Tüten verpackt. Ich schätze mal, die waren mit dem Motorrad da; denn er hatte so eine schwarze Motorrad-Lederjacke. Sie ist noch einkaufen gegangen und kam mit Chips und ner Flasche Wodka zurück. Dann haben sie alles in das Boot gepackt und sind weit rausgegangen, weil es ja hier sehr flach ist. Sie ist dann als Erste ins Boot, was ja gar nicht so leicht ist bei einem solchen Gummiboot. Er hat’s dann auch geschafft. Und was ist jetzt mit denen?“
„Die werden gesucht, werden vermisst!“
Inzwischen hatten sich andere Strandgäste um die Gruppe junger Männer versammelt. Eine junge Frau meinte, sie habe abends am anderen Ufer Lichtzeichen gesehen. Für Scheinwerfer von Autos sei es zu regelmäßig gewesen. „So kurz, kurz, lang, und wieder kurz, kurz, lang!“
Velmond zückte seinen Kripo-Ausweis und bat um die Adressen des auskunftsfreudigen Mannes und der jungen Frau. Vielleicht würde er nochmal mit ihnen Kontakt aufnehmen müssen.
„Wenn Ihnen noch irgendwas einfällt - oder auffällt, hier ist meine Karte!“
Auf dem Parkplatz stand in der Tat ein einsames Motorrad mit Münchner Nummer, mit zwei angeketteten Helmen. Das Nummernschild war mit Draht provisorisch befestigt. Der TÜV abgelaufen. Mithilfe von zwei Tempotaschentüchern wischte Velmond die Schweißbänder von den Helmen für eventuelle DNA-Analysen ab. „Links hinten, rechts vorn!“ So wollte er sich merken, welches Tuch von welchem Helm stammt, als er die Tücher in seine Taschen versenkte. Links und hinten, da war jedes Mal ein i drin. Rechts vorn, da war ein r drin. So merkte er sich auch Steuerbord. Da ist ein e drin – also rechts. Backbord ohne e ist links.
Zurück am drüberen Einsatzort trafen sie ob der langen Wartezeit auf einen sehr ungnädigen Hauptkommissar Elsterhorst und einen überglücklichen Rinaldo. Ein Einsatzfahrzeug war noch zurück geblieben. Der Tatort war zu sichern, die Arbeiten längst nicht abgeschlossen. Eine wachsende Schar Neugieriger drohte, Spuren zu zertrampeln.
Velmond quetschte sich jetzt neben dem nassen und entsprechend duftenden Rinaldo auf die Rückbank von Judiths Auto. Elsterhorst vorn rechts war offenbar „not amused“, mit seinem Kollegen das Auto teilen zu müssen. Da schnurrte sein Handy.
„Herr Hauptkommissar, das Auto mit dem uns durchgegebenen Kennzeichen gehört unserem ehemaligen Kollegen Paul Krüner, und der wird seit gestern abend vermisst! In seiner Wohnung ist er nicht. Eine Bekannte von ihm, bei der er häufig zu Gast sein soll, war äußerst bestürzt, dass Krüner nicht erreichbar war. Auch auf seinem Handy nicht, von dem sie uns die Nummer verraten hatte.“
Liebesdrama? Mord? Entführung?
Am Morgen danach liefen die Ermittlungen auf Hochtouren. Der mutmaßliche Tatort musste aufwändig von See und Land gegen Neugierige abgesperrt bleiben. Ein Helikopter mit Wärmebildkamera suchte trotz der Proteste von Leuten der Vogelschutzwarte die Uferbereiche nach einer möglichen zweiten Leiche ab. Bisher vergeblich.
Für das geborgene Schlauchboot „Seagull“ musste ein großer Raum gefunden werden, wo das triefend nasse Objekt für die weitere Spurensicherung abgelegt werden konnte. Die kleinen Fundstücke sammelten sich in den Büros von Velmond und Elsterhorst.
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