Die beiden Brüder nahmen sich gemeinsam eine Mietdroschke und fuhren in Richtung des Stadthauses der Wintersfields. Zwei Straßen vor ihrem Ziel hielten sie an. Harry bat den Fahrer, hier zu warten, bis sie fertig waren. Er nannte seinem Bruder die genaue Adresse der Wintersfields und wünschte ihm viel Glück. Phil machte sich auf den Weg und Harry blickte ihm noch hinterher, bis er an der nächsten Straßenecke abbog und verschwand.
Harry wartete und wartete. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er zum letzten Mal derart nervös gewesen war. Vielleicht noch nie? Dass Phil nun schon so lange fort war, konnte doch nur ein gutes Zeichen sein, oder? An die Möglichkeit, dass Phil als Betrüger entlarvt und verhaftet worden war, mochte Harry gar nicht denken.
Nach einer gefühlten Ewigkeit kam Phil plötzlich wieder um die Straßenecke und steuerte auf Harry und die wartende Mietdroschke zu. Phil wirkte entspannt und siegreich.
“Phil, ist alles gut gegangen? Was ist passiert? Warum hat es so lange gedauert?”
Phil setzte ein schelmisches Grinsen auf und erwiderte: “Lass und zuerst einsteigen, kleiner Bruder. Ich erzähle dir alles auf dem Heimweg.”
Phil und Harry stiegen in die Droschke. Als diese sich in Bewegung setzte, fing Phil endlich an zu berichten.
“Es war einfacher als gedacht. Lord und Lady Wintersfield waren wie erwartet, nicht zu Hause gewesen. Also habe ich dem Personal mitgeteilt, dass ich in Vertretung ihres gewohnten Hausarztes geschickt wurde, um nach der jungen Miss zu sehen und mich über ihren Zustand zu vergewissern.”
“Himmel bin ich froh, dass du nicht erwischt wurdest, Phil. Für kurze Zeit hatte ich schon das Schlimmste befürchtet. Aber es bedeutet auch, dass Clara tatsächlich auf eine ärztliche Behandlung angewiesen ist. Was ist los mit ihr? Erzähl weiter!”
“Wenn du mich endlich wieder zu Wort kommen lässt, kleiner Bruder - sehr gerne”, erwiderte Phil etwas amüsiert.
“Ich wurde also zu Claras Zimmer geleitet und eine Zofe blieb die gesamte Zeit über als Anstandsdame anwesend. Clara lag in ihrem Bett und schlummerte kaum merklich. Sie war zwar irgendwie wach und ansprechbar, wirkte aber sehr lethargisch. Auf dem Nachtkästchen sah ich ein kleines Fläschchen stehen und fragte die Zofe nach dessen Inhalt. Diese meinte nur, es sein irgendein beruhigendes Tonikum und Clara hätte es nach Vorschrift vor einer Stunde eingenommen. In Kürze würde sie also in tiefen Schlaf fallen.”
“Meine Güte, das klingt ja furchtbar! Konntest du noch mehr herausfinden? Warum um Himmels willen, braucht Clara dieses Tonikum?”
Harry konnte sich nicht zurückhalten.
“Die Zofe meinte, dass deine Clara ohne dieses Elixier keinen Schlaf mehr finden würde - seit dem schrecklichen Ereignis . Was das für ein schreckliches Ereignis gewesen ist, konnte ich aber leider nicht herausfinden.”
“Das wird ja immer schlimmer. Und dann? Konntest du mit Clara sprechen?”
“Ich habe sie vorsichtig angesprochen und nach ihrem Befinden gefragt. Ich wollte es vor der Zofe so aussehen lassen, als würde ich überprüfen wollen, ob Miss Clara das Tonikum auch gut vertragen würde. Clara hatte daraufhin nur leicht genickt. Die Zofe wandte sich dann aber glücklicherweise etwas ab und war für kurze Zeit damit beschäftigt, Wäsche zu falten und im Kleiderschrank zu verstauen.”
Phil machte eine kleine Gedankenpause und räusperte sich.
“Diese Gelegenheit wollte ich nutzen, um an interessantere Informationen für dich zu kommen. Ich kniete mich also neben Claras Bett und fragte sie so leise, dass es nur Clara hören konnte, was geschehen war. Darauf antwortete sie nicht und starrte nur an die Decke. Dann fragte ich, ob es jemanden gäbe, der sie vermissen könnte, weil sie sich nun seit Wochen zurückzog. Ich fragte sie, ob sie einen Freund hätte, der ihr vielleicht beistehen konnte.”
“Oh Phil, ich fürchte mich nun etwas davor, wie deine Erzählung weiter gehen wird”, gestand Harry.
“Na ja, ich hoffe, ich bin nicht zu weit gegangen. Aber irgendetwas musste ich doch tun. Als ich sie nach ihrem Freund gefragt hatte, traten Miss Clara Tränen in die Augen und strömten einen kurzen Augenblick später über ihre Wangen. Sie verzog dabei keine Miene. Es rannen einfach nur Tränen über ihr Gesicht. So etwas habe ich noch nie gesehen, Harry. Es tut mir sehr leid, dass ich nicht mehr tun konnte und dass ich sie zum Weinen gebracht habe. Das wollte ich bestimmt nicht.”
“Ich weiß Phil, ich weiß. Aber was geschah dann?”
“Danach habe ich mich aufgerichtet. Habe mich bei der Zofe bedankt und ihr versichert, alles sei mit der Einnahme des Tonikums soweit in Ordnung. Danach habe ich so schnell wie möglich das Haus verlassen.”
Die beiden Brüder schwiegen einen Augenblick. Nachdenklich blickte Harry aus dem Kutschenfenster. Was er gerade erfahren hatte, war sehr verstörend. Auch Phil schien sich noch keinen Reim daraus machen zu können. Was hatte das alles zu bedeuten? Es konnte heißen, dass Clara womöglich auf dieser Reise etwas Schreckliches zugestoßen war. Es könnte sie in einem so enormen Ausmaß verstört haben, dass sie nun auf ein beruhigendes Tonikum und Bettruhe angewiesen war. Aber warum hatte sie geweint, als Phil sie nach einem Freund, einem Menschen, dem sie fehlen könnte, gefragt hatte? Hatte sie dabei hoffentlich an ihn, an Harry gedacht?
“Ich bin mir sicher, dass sie wegen dir geweint hat, Harry. Sie vermisst dich ebenso, wie sie dir fehlt. Lass dir das gesagt sein, kleiner Bruder”, sagte Phil plötzlich in Harrys Gedanken hinein. Harry blickte seinen Bruder an.
“Phil, ich danke dir, dass du dieses Risiko heute auf dich genommen hast. Für mich.”
“Immer wieder gerne”, antwortete Phil sanft lächelnd. “Aber jetzt lass uns erst mal nach Hause kommen und mich diese Aufmachung loswerden. Dr. Spencer ist nun wieder außer Dienst”, fügte Phil zwinkernd hinzu.
Phil verlor wirklich niemals seinen Humor, dachte Harry. Er liebte seinen Bruder und war sehr dankbar, dass er nun hier bei ihm war. Gleichzeitig machte sich Harry nun auch Vorwürfe, weil er zugelassen hatte, dass sich Phil wieder einmal in eine derart gefährliche Lage gebracht hatte. Diesmal seinetwegen. Aber es war ja alles gut gegangen, hoffentlich.
8. Kapitel
Im Stadthaus von Tante Feodora, Harrys derzeitigem Zuhause angekommen, verabschiedeten sich die Brüder vorerst voneinander und jeder begab sich in seine Privaträume. Bei einem gemeinsamen Abendessen würden sie einander wiedersehen und weitere Pläne und Maßnahmen besprechen.
Harry suchte wie immer, wenn er nachdenken wollte, sein Arbeitszimmer auf. Er ging ein paar Male auf und ab, setzte sich dann aber in seinen bequemen Sessel hinter dem Schreibtisch. Harry lehnte sich zurück und starrte ins Leere. Vor seinem inneren Auge ging er Phils Erzählungen noch einmal durch. Er sah Clara vor sich, wie sie fast leblos in ihrem Bett lag und zur Decke hinaufblickte. Was war bloß geschehen? Dieses Bild entsprach so überhaupt nicht seiner geliebten, lebhaften und warmherzigen Clara. Was war ihr zugestoßen?
Die Unwissenheit machte Harry fast wahnsinnig. Wie konnte er herausfinden, was passiert war? Und war es tatsächlich so schrecklich, dass keiner darüber reden wollte? Offenbar. Harry wurde ganz übel, denn er befürchtete allmählich die schlimmsten Dinge. Es konnte alles Mögliche sein. Jemand konnte ihr Gewalt angetan haben, ein schrecklicher Unfall konnte ihr passiert sein oder eine Entführung. Harry musste aufhören, darüber nachzudenken, bevor er sich ganz verrückt machte. Halte dich vorerst an die Fakten , sagte er zu sich selbst.
Also, Clara befand sich nun in Sicherheit in ihrem Zuhause. Niemand hielt ihn, Harry, absichtlich von ihr fern. Clara dürfte sich offensichtlich nicht in der Verfassung befinden, auszugehen oder jemanden zu treffen. Es hatte also nichts mit ihm persönlich zu tun. Im Gegenteil, Claras Tränen wiesen vermutlich darauf hin, dass sie ihn sehr wohl immer noch liebte und vermisste.
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