Harry wartete und blickte sich neugierig in der Eingangshalle um. Sie war sehr großzügig und prachtvoll eingerichtet und vermittelte einen wohlhabenden Eindruck. Außerdem war es hier heller und freundlicher, als Harry es sich vorgestellt hatte.
Plötzlich kam der Butler zurück und sagte: “Ich bedaure, Sir. Miss Clara ist leider unpässlich und kann keinen Besuch empfangen. Ich muss Sie nun bitten zu gehen.”
Harry tat wie ihm geheißen und verließ das Haus.
Draußen blieb er einen Moment vor dem Haus stehen und blickte die Wände hoch - hinauf in den ersten Stock. War da oben irgendwo Clara? Gab es vielleicht irgendeine Möglichkeit, über ein Fenster Kontakt zu ihr aufzunehmen? Harry verwarf diesen verrückten Gedanken sofort wieder und schüttelte den Kopf. Das würde gerade noch fehlen, dass er sich hier komplett lächerlich machte, indem er hinauf zu einem Fenster kletterte. Wie konnte er nur über etwas derart Absurdes nachdenken? Harry beschloss kurzerhand, zu Fuß zu gehen, um seine Gedanken zu klären. Also spazierte er den weiten Weg nach Hause.
Eigentlich war es so gelaufen, wie er es schon geahnt und befürchtet hatte. Wieso hätte man ihm auch plötzlich gestatten sollen, Clara zu begegnen und womöglich die Wahrheit herauszufinden? Wenn auch schon Claras Mutter ihm bislang keine Auskunft geben wollte. Doch was sollte er jetzt tun? Einfach nichts unternehmen, das ging nicht. Dazu liebte und vermisste er Clara einfach zu sehr. Und was, wenn sie vielleicht sogar seine Hilfe benötigte? Was, wenn hier irgendetwas gegen ihren Willen vorging?
Wenn irgendetwas geschehen wäre, dass allseits bekannt war, dann hätte ihn Tante Feodora vor ihrer Abreise nach Bath sicherlich darüber informiert. Seiner Tante, die mit allen Klatschbasen des ton bekannt war, wäre so etwas sicherlich zu Ohren gekommen, wenn es denn da etwas zu wissen gäbe. Außerdem war ihr sehr wohl bekannt, was Harry für Clara empfand. Also konnte es nichts in der Art sein. Wieso hatte er nicht schon vor einer Woche mit seiner Tante darüber gesprochen? Vermutlich, weil Harry zunächst gedacht hatte, dass vielleicht gar nichts dahintersteckte und Clara nur erkältet wäre und deshalb einige Ballabende auslassen musste. Er hatte nie den Gedanken weiterverfolgen wollen, dass Clara ihm womöglich absichtlich aus dem Weg gegangen war. Doch inzwischen war sich Harry dessen nicht mehr ganz sicher.
Zu Hause angekommen begab er sich erneut in sein Arbeitszimmer. Was sollte er nun tun?
Harry beschloss, einen Brief an Clara zu schreiben. Ein Brief musste doch wohl bei ihr ankommen. Er würde ihn anonym und so unauffällig wie möglich gestalten. Das musste einfach funktionieren. Also begann Harry zu schreiben…
4. Kapitel
Clara saß in ihrem Zimmer auf dem Bett mit Harrys Brief in der Hand. Sie liebte Harry. Sehr sogar. Und das nun seit mehr als zwei Jahren. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen. Noch nie zuvor hatte sie so für einen jungen Mann empfunden. Harry war der Allererste, und Clara hatte stets gehofft und gedacht, dass er auch der letzte Mann in ihrem Leben sein würde. Für immer.
Und nun konnte sie ihn nicht mehr treffen, ihn nicht mehr sehen. Sie vermisste ihre langen, vertraulichen Gespräche, die sie stets zu führen gepflegt hatten. Es war eine so kostbare Zeit gewesen mit Harry. Sie hatten sich immer nur auf Bällen oder Veranstaltungen begegnen können, denn private Besuche bei ihr Zuhause hätten ihre Eltern niemals zugelassen. Clara war noch recht jung und ihre Eltern noch nicht bereit gewesen, sie zu verheiraten.
Aber die Gelegenheiten auf den vielen Bällen hatten Clara und Harry genutzt. Sie hatten unzählige Tänze miteinander getanzt und sich währenddessen ausführlich unterhalten. Sie hatten zwar nie über dieses konkrete Thema - ihre gemeinsame Zukunft gesprochen, es war aber stets unausgesprochen klar gewesen, dass sie dasselbe empfanden. Clara hatte es in Harrys Blick sehen können, und in der Art, wie er mit ihr tanzte und sprach gespürt.
Und nun war alles anders gekommen. Clara würde Harry am liebsten sehen, sie hatte aber einfach zu viel Angst davor. Sie hatte Panik und war total verstört. Was da auf dieser Reise geschehen war, war einfach zu entsetzlich gewesen, als dass Clara mit irgendjemandem darüber sprechen könnte. Geschweige denn mit Harry.
Clara kamen die Tränen. Diese Reise hatte alles verändert - ihr Leben komplett zerstört. Clara hatte nun Angst vor Männern. Wollte sich nie wieder einem nähern. Nie wieder zulassen, dass sie derart hilflos ausgeliefert wäre.
Ihr wurde ganz übel, wenn sie nur daran dachte, wenn sie sich an diese grauenhafte Nacht zurückerinnerte. Clara begann zu zittern und Panik stieg in ihr hoch. Sie läutete nach ihrer Zofe, die sofort mit Claras Medizin herbeieilte.
Langsam begann das Tonikum zu wirken und Clara konnte sich beruhigen. Ihre Zofe ließ sie wieder alleine. Nun war Clara gerade einmal zwanzig Jahre alt geworden und ihr Leben war praktisch vorbei. So sehr hatte sie sich darauf gefreut, nun endlich bald Harry heiraten zu können. Denn dessen war sie sich sicher gewesen. Er würde ihr noch in dieser Saison einen Heiratsantrag machen wollen. Und nun konnte nichts mehr daraus werden. Sie würde sich niemals einem Mann hingeben können, um die Ehe zu vollziehen. Würde man sie denn so überhaupt noch heiraten wollen? Vermutlich nicht.
Seit den Geschehnissen auf dieser Reise konnte Clara auch nicht mehr schlafen. Es ging nur mehr mit ihrer Medizin.
Ihre Familie hatte sie, als sie bereits wieder seit einer Woche zu Hause gewesen waren, versucht zu ermutigen, mit ihnen auf einen Ball zu gehen. Sie hatten versucht, sie dazu zu überreden, indem sie ihr gesagt hatten, dass Harry sicherlich auch dort wäre. Sie wollten, dass alles so schnell wie möglich wieder normal wäre. Am liebsten hätten sie so getan, als wäre nichts passiert.
Vor allem ihr Vater schien sich selbst schwere Vorwürfe zu machen, denn es war seine Idee gewesen, mit ihr zu ihrem Geburtstag diese Reise zu unternehmen. Er hatte sich - laut Claras Mutter - seitdem immer öfters und noch mehr als sonst in seinem Arbeitszimmer verkrochen und wieder zu trinken begonnen. Mutter hatte es nämlich einige Jahre erfolgreich geschafft, ihn ein wenig von der Flasche wegzubekommen. Denn immer, wenn Vater zu viele Sorgen hatte, trank er zu viel. Doch so schlimm wie dieses Mal dürfte es noch nie gewesen sein.
Clara empfand - trotz alledem, was ihr selbst zugestoßen war und sie nun einsperrte und lähmte - Mitleid für ihren Vater. Das hatte auch er nicht verdient. Er hatte ihr ja nur eine Freude machen wollen.
Nun lag Clara hier in ihrem in Rosatönen gehaltenen Zimmer auf ihrem Bett und hielt Harrys Brief in Händen. Wie sehr wünschte sie sich, dass diese ganze Sache nicht zwischen ihnen stünde und sie Harrys Schreiben einfach beantworten konnte.
Harry schrieb:
Was ist passiert, Clara? Wieso sehen wir uns nicht mehr? Ist auf dieser Reise irgendetwas geschehen? Irgendetwas, das ich vielleicht wissen sollte? Ich vermisse dich und unsere Gespräche schrecklich und wünsche mir aus tiefstem Herzen, zumindest ein Antwortschreiben von dir zu bekommen. Ich mache mir große Sorgen und weiß nicht, was ich sonst tun kann. Ich möchte dir helfen, falls du in irgendeiner Weise Hilfe benötigst.
Dein dich immer liebender,
Harry
Als Clara nun die Zeilen erneut überflogen hatte, brach sie in Tränen aus. Keine Tränen der Panik oder der Furcht. Es waren Tränen des Bedauerns, der Hoffnungslosigkeit und der Verzweiflung. Ihr Herz brannte. Das Tonikum konnte zwar ihre Emotionen betäuben, jedoch nicht ihr Herz. Sie liebte Harry - mit jeder Faser ihres Körpers und das seit nun mehr als zwei Jahren. Sie hatte sich bereits ihre gemeinsame Zukunft in den rosigsten Tönen ausgemalt und es nicht erwarten können, ihn endlich zu heiraten.
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