Wenn sie ehrlich war, hatte auch sie kaum wirklich Zeit gefunden. Sie hatte oft viel lernen müssen und wenn sie frei hatte traf sie sich mit ihren Freundinnen. So war es wohl auch bei Tate. Das war eben die Sache, wenn man älter wurde und sich auseinander lebte.
Sicher würde es nicht anders sein, wenn sie nun auch die gleiche Schule besuchte. Tate würde kaum Zeit für sie haben. Aber es war ihr egal. Sie würde nicht lange dort bleiben, das hatte sie schon seit dem Abend beschlossen, an dem ihr Vater ihr die Wahrheit offenbarte.
Carly folgte Conleth ins Haus. Ihr Vater stand im Flur, bereit sich zu verabschieden. Plötzlich spürte Carly wieder einen dicken Kloß im Hals. Es war so weit. Sie mussten sich verabschieden. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und trat mit der Fußspitze auf den Fließen im Flur herum. Sie standen voreinander und scheinbar wusste keiner der beiden, wie sie beginnen sollten. Conleth wich etwas zur Tür zurück. „Vielleicht warte ich lieber am Wagen.“
Weder Avery noch Carly sagten etwas. Conleth verließ das Haus und ließ die beiden alleine zurück. Sie standen noch eine Weile wortlos da, dann trat Avery auf Carly zu. „Pass auf dich auf, ja?“
Carly hob langsam den Kopf und sah ihren Vater an. Sie war ein Kind. Gut, viel eher eine junge Erwachsene, aber sie war sein Kind. Er musste doch auf sie aufpassen. Doch stattdessen schickte er sie einfach weg.
Sie zuckte bloß die Schultern. Avery sah Carly traurig an „Bitte sei nicht wütend auf mich.“
Er schüttelte langsam den Kopf. „Ich kann es einfach nicht.“
Carly schnaubte. „Du hast allen Grund wütend auf mich zu sein.“
Avery weitete entsetzt die Augen und öffnete den Mund um etwas zu entgegnen, doch ihm schienen die Worte zu fehlen. Einen langen Augenblick sah er sie entrüstet an, dann schüttelte er den Kopf. „Wieso sollte ich wütend auf dich sein?“
Carly zuckte die Schultern. „Wäre ich nicht gewesen, wäre Mom noch bei uns.“
„So etwas...“, er stockte bestürzt. „So etwas darfst du nicht mal denken, Carly. Es ist nicht deine Schuld.“
„Dann verstehe ich es nicht!“
In Carlys Augen begannen Tränen zu brennen. Sie schluckte hart, kämpfte gegen den Knoten in ihrer Kehle an.
„Dann verstehe ich nicht, wieso du das tust. Du bist wütend auf mich, oder nicht?“ „Um Gotteswillen, nein!“
Ihr Vater trat einen Schritt auf sie zu. „Nein, bin ich nicht. Wie kommst du darauf, Carly?“
Sie schnaubte wütend. „Du schickst mich weg und fragst mich, wie ich zu so einem Eindruck komme?“ „Aber es ist doch nicht deswegen.“
Auch Carlys Vater schluckte nun hart und auch er rang mit den Tränen. „Ich kann es nicht. Ich...“, in seinen Augen schimmerte etwas, Angst, Verlust, Leid und noch etwas, das sie nicht deuten konnte.
Er holte tief Luft. „Ich kann dich nicht alleine groß ziehen, Carly.“
Seine Stimme klang erstickt und rau. Es musste schwer sein, sich das einzugestehen. Carly wusste das ihr Vater stolz war und sich nur ungern Fehler eingestand. Sie schluchzte und schüttelte den Kopf. „Dad... bitte schick mich nicht weg. Bitte!“
Carly schluchzte abermals und ging einen Schritt auf ihren Vater zu ehe sie ihn erstickt anflehte „Wir bekommen das hin. Irgendwie. Aber bitte, schick mich nicht weg. Verkauf nicht unser Haus...“ „Ich kann nicht!“, flüsterte er mit gebrochener Stimme. Er atmete tief durch und senkte den Blick.
Als er Carly nach einer gefühlten Ewigkeit ansieht, schüttelt er erneut den Kopf „Ich habe den neuen Job schon angenommen. Ich kann nicht... ich kann das nicht abbrechen. Und ich kann nicht..." Seine Stimme brach erneut als er Carly verzweifelt ansah „Ich verspreche dir, dass es dir gut gehen wird. Besser als mit mir. Ich wäre kaum zu Hause und ich... ich kann einfach nicht für dich da sein, so wie du es brauchst. Ich bin kaum dazu im Stande... ich könnte deine Mutter niemals ersetzen..“
Carly schluchzte wieder und begann bitterlich zu weinen „Bitte, Dad... bitte schick mich nicht weg..“
Avery wich ihrem Blick aus, konnte den Anblick nicht ertragen. Konnte seine Tochter nicht so leiden sehen. „Es bleibt dabei. Du wirst mit Conleth mit fahren. Noch heute..“ „Nein!“ Carly schrie auf, wollte nicht wahrhaben, dass ihr Vater sie wirklich weg schicken wollte. Sie schnaubte wütend „Mom würde das nicht wollen und das weißt du!.“
Nun sah er sie ruckartig wieder an. Er schluckte schwer, in seinen Augen spiegelte sich das Leid „Sie ist aber nicht da!.“
Mit diesen Worten ging er an ihr vorbei und öffnete ihr die Tür. Carly stand starr und steif da, weigerte sich auch nur einen Schritt zu tun. Als sie ihren Vater so ansah, spürte sie erneut Wut in sich hoch kochen. Es ist ihm völlig egal, was mit ihr passiert. Es war ihm egal, dass sie ihren Vater nun mehr brauchte denn je.
Carly fragte sich, wie man jemandem, den man liebte, so etwas antun konnte. Von wegen, er war nicht wütend auf sie. Wie sonst konnte man jemandem so etwas sonst antun. Besonders, wenn es um die eigene Tochter ging. Das war nahezu unvorstellbar. Und doch war es genau das, was gerade passierte. Und für Carly war es, als zerbräche ihre Welt in Trümmern zusammen, als ihr Vater sie auffordernd und wartend ansah, damit sie endlich zu Conleth in den Wagen stieg.
Dezember 1999, kurz nach Weihnachten
Es war kurz vor der Jahrtausendwende, doch für Thomas schien es keine Hoffnung auf ein gutes, neues Jahr zu geben. Nicht mal auf ein gutes Jahrtausend.
Während nun gerade kurz vor Weihnachten viele Kinder ein neues zu Hause gefunden hatten, saß er alleine und verwaist auf der Fensterbank in seinem kleinen Zimmer. Er hielt den Stoffhasen, ein Ankunftsgeschenk des Heimes, in das er kürzlich gekommen war, fest im Arm und hatte das Gefühl, nur er allein sei sein Freund.
Die Pflegefamilie in der er zuvor gelebt hatte, hatte ihn weg gegeben. Sie hatten selbst ein Kind zur Welt gebracht und da war ihnen Thomas zu lästig geworden. Eine einsame Träne rollte über sein Gesicht. Er hatte doch nur mit der kleinen Kate spielen wollen. So wie sonst auch. Er hatte sie bloß etwas gekniffen und ihre Hand ganz feste gedrückt, das hatte er schon öfter gemacht. Doch diesmal hatte seine Pflegemutter ihn dabei gesehen und war furchtbar wütend geworden.
Thomas drückte den Hasen fester an sich, während er den Schneeflocken dabei zu sah, wie sie zu Boden rieselten und den Asphalt der Straßen unter sich bedeckten.
Er hatte Kate schon nicht leiden können, als sie im Bauch seiner Pflegemutter war. Immer hieß es das Baby. Alles drehte sich um die kleine Kate, noch lange bevor sie überhaupt geboren war. Und Thomas war ihnen von da an völlig egal gewesen. Er hasste das kleine Mädchen dafür, dass sie ihm das Einzige genommen hatte, was er lieb hatte. Wäre sie nicht gewesen, dachte Thomas wütend, säße er jetzt nicht hier, ganz alleine.
Als es an der Tür klopfte schreckte Thomas hoch und hätte um ein Haar den Hasen fallen lassen. Eine der Mitarbeiterinnen öffnete langsam die Tür und lächelte. „Thomas?“, langsam trat sie ein, „Wie geht es dir?."
Thomas antwortete nicht. Seine Finger strichen nervös durch das borstige Fell des Stofftiers. Er setzte es auf seine Knie, so dass er es genau betrachten konnte. Obwohl es neu war, wirkte es schon über Jahre gebraucht und zerrupft. Thomas hatte seine Knopfaugen ausgerissen und am Hals klaffte ein Riss aus dem das Innenfutter heraus quill.
Die Frau räusperte sich und trat etwas näher heran. „Thomas, da ist jemand, der dich gerne kennen lernen würde.“
Nun wurde Thomas aufmerksam und sah die Frau neugierig an. Wer sollte ihn schon kennen lernen wollen? Er war erst drei Monate dort und doch kam es ihm wie eine Ewigkeit vor.
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