Februar 1999
Das Paar saß dem blonden Mädchen gegenüber. Es lächelte sie nett an. Mister und Mistress Pearl, rief sie sich in Erinnerung. Zoe wurde es etwas mulmig zumute. Irgendwie waren ihr diese Leute unheimlich. Der Mann beugte sich etwas vor, der Teddybär, den er mit gebracht hatte, saß zwischen ihnen auf dem Tisch.
Mister Pearl wirkte, als würde er ein Kostüm tragen. Seine dunkelblonden, gut geschnittenen Haare, seine schwarze Strickjacke über seinem Polohemd. Es sah aus, als gehöre es nicht zu ihm. Das Bild passte nicht, auch wenn sich Zoe das nicht so recht erklären konnte. Er wirkte viel zu steif.
„Zoe, sicher möchtest du ein schönes zu Hause, so wie es viele andere Kinder auch haben, richtig? Wir können dir alles geben, wovon du träumst. Ein großes Zimmer mit Prinzessin Bett, jeden Tag deine Lieblingsgerichte“, er sah zu seiner Frau. „Mey liebt es zu kochen, richtig?“
Die Frau nickte. Ihre blonden, streng zurück gebundenen Haare, ließen sie weniger liebevoll wirken, als sie sich gab. Zoe war sich nicht sicher, ob sie das wollte. Eigentlich fühlte sie sich in dem Waisenhaus ganz wohl. Sie war schon viele Jahre dort, denn kein Paar wollte ein aggressives Mädchen wie sie haben.
Zoe hatte hier viele Freunde gewonnen, trotz ihrer häufigen Wutausbrüche. Und obwohl viele von denen, an die sie sich immer gerade gewöhnte, gingen, wollte sie hier bleiben. Das hier war das einzige, was sie richtig kannte. Sie war drei Jahre alt, als man sie vor drei Jahren aus ihren zu Hause raus holte.
Sie erinnerte sich kaum an ihre Mutter, die nun schon seit langem, so wie Zoe es bei Gesprächen der Erwachsenen gehört hatte, in einem Bundesgefängnis saß. Wenn Zoe nach ihrer Mutter fragte, so antwortete man ihr nur, das ihre Mom irgendwo ist, wo sie wichtige Dinge für ihr Leben lernt. Wo sie lernt, sich zu bessern.
Ihren Vater kennt Zoe gar nicht. Auch das Jugendamt wusste nicht, wer ihr Vater war.
Mistress Pearl schob den Teddybär bei Seite. Obwohl sie versuchte locker zu wirken, sah sie aus, als hätte man ihren Rücken an ein Brett gefesselt, so steif saß sie da.
„Zoe, wir werden dir das geben, was du brauchst. Du möchtest doch, das es dir gut geht, richtig?“
Zoe nickte automatisch.
„Also möchtest du natürlich mit uns kommen, stimmt´s?“ fragte sie weiter.
Wieder spürte Zoe, wie sie nahezu mechanisch nickte, obwohl sie ihrem Körper nicht befohlen hatte, sich zu bewegen. Mister und Mistress Pearl schenkten einander ein kühles Lächeln.
Dann ging alles ganz schnell. Sie sprachen mit dem Leiter der Einrichtung und der Dame vom Jugendamt. Dann wurden ihre kleine Tasche und ihr Rucksack schon in das luxuriöse Auto des Paares verstaut.
Als Zoe auf dem Rücksitz saß, entdeckte sie ein kleines, rotes Spielzeugauto, mit schwarzen Rallaystreifen, das auf dem Boden lag. Den Teddybären setzte Mistress Pearl neben sie auf den Sitz, schnallte Zoe an und warf die Tür zu. Sie unterhielten sich ein letztes Mal mit den anderen Erwachsenen, ehe die Reise los ging.
Zoe war zum Weinen zumute. Sie wollte nicht gehen. Das Paar machte ihr Angst. Hilflos sah sie, wie das Waisenhaus immer kleiner in ihrem Sichtfeld wurde und ganz verschwand, als sie in eine andere Straße einbogen.
Mistress Pearl warf ihr über den Rückspiegel ein kaltes Lächeln zu, das Zoe tiefer in ihren Sitz rutschen ließ. Sie wusste, das gerade etwas Schreckliches passiert war. Es war, als habe sie das Monster unter ihrem Bett gerade an den Knöcheln gepackt und zog sie nun langsam zu sich in die Dunkelheit. Und sie konnte nichts dagegen tun. Nicht mal schreien.
Heute
Carly blickte auf, als ihr Vater nach vielen Stunden das Arbeitszimmer verließ. Er blieb an der Treppe stehen, ohne sich zu ihr herum zu drehen, oder sie anzusehen.
„Conleth wird in einer guten halben Stunde eintreffen. Du solltest deine Koffer schon mal runter holen.“
Carly nickte stumm. Hatte er so wenig für sie übrig, das er ihr nicht mal jetzt in die Augen sehen konnte? So kurz bevor sie ihn verlassen würde? Würde es keinen Abschied geben?
Carly biss sich auf die Innenseite ihrer Unterlippe. Dann stand sie auf und stieg mühselig die Treppen hinauf. In ihrem leeren Zimmer sah sie sich um. Was sie in ihrem Koffer nicht mit nahm, war nun in Kisten verstaut worden. Sie würden in das neue Haus gefahren werden, wenn die Firma am nächsten Tag kam.
Carly sah sich wehmütig im Raum um. Dann setzte sie sich auf den Boden, wo zuvor ein großer Teppich gelegen hatte und begann leise zu weinen. Wenn ihre Mutter jetzt da wäre, würde sie niemals zulassen, dass er Carly weg schickte.
Sie sah zu einer der Wände, die sie gemeinsam mit ihrer Mutter bemalt hatte. Kopfschüttelnd und weinend zog Carly die Knie an die Brust. Sie wollte nicht weg gehen. Sie wolle nicht in diese blöde Schule, von der ihr Vater schon immer geschwärmt hatte.
„Du solltest Tate sehen. Er ist richtig erwachsen geworden, seit er dort zur Schule geht“, hatte er geschwärmt.
„Er wird mal ein guter General und viel Geld verdienen.“
Was kümmerte es Carly schon. Sie wollte nie so einen Job ausführen. Sie war sehr sportlich, ja. Aber sie hätte lieber so etwas wie Personal Trainer gemacht, an einer Hochschule Sport studiert. Oder Sportlehrerin.
Doch ihr Vater hatte andere Pläne für sie. Es kümmerte ihn gar nicht, was Carly wollte. Und das machte Carly wieder wütend. Sie schöpfte aus der Wut nun die Kraft aufzustehen und ihre Koffer hoch zu hieven, um sie in den Flur runter zu tragen.
Als sie den letzten Koffer abgestellt hatte, hörte sie ihren Vater in der Küche. Etwas klirrte und ging zu Bruch. Carly folgte dem Geräusch und blieb schließlich in der Tür stehen. Überrascht, vielleicht auch etwas peinlich berührt.
Ihr Vater stand an der Arbeitszeile. Sein Kaffeebecher lag zersprungen am anderen Ende des Raumes auf dem Boden. Der Kaffee floss in Rinnsalen über die Fugen der Fliesen.
Ihr Vater sah nicht auf, als er Carly bemerkte. Aber das brauchte er auch nicht, damit Carly erkannte, dass er geweint hatte.
Unsicher blieb sie in der Tür stehen, fühlte sich mit einem mal hilflos. So hatte sie ihren Vater noch nie gesehen. Keiner sagte etwas und die Sekunden schienen sich wie Kaugummi zu ziehen.
Dann atmete er schwer durch und schüttelte den Kopf. „Ich ... es tut mir leid.“
Carly war sich nicht sicher, was er mit der Entschuldigung meinte. Die Tasse, oder die Tatsache, dass er sie weg schickte. Nun sah er zu ihr auf. Er wirkte um Jahre gealtert. Tiefe Falten zogen sich über seine Stirn und seinen Mund. Sein Gesicht war blass und er hatte schwarze Ränder unter den Augen. Fast war Carly erleichtert, als es an der Tür klingelte. Langsam löste sie sich aus ihrer Starre und ging in den Flur zurück, um die Türe zu öffnen.
Gut fünf Minuten zu früh als angekündigt, stand Conleth vor ihr. Carly machte sich keine Hoffnung, dass in diesen fünf Minuten etwas passiert wäre, das ihre Abreise hätte verhindern können. Und doch ärgerte sie sich darüber.
Conleth trat einen Schritt auf sie zu und nahm sie in den Arm. „Hallo Carly!“
Carly stand steif da und ließ die Begrüßung über sich ergehen. Irgendwie verspürte sie auch Conleth gegenüber Wut. Vielleicht, weil er derjenige war, der Carly abholte und in diese Schule brachte. Als sich Conleth löste, legte er seine großen Hände auf Carlys Schultern. „Mein Beileid.“
Bei diesem Wort zog sich Carlys Magen zusammen. Sie konnte diese Satz einfach nicht mehr hören, war ihm überdrüssig geworden. Er änderte nichts an der Tatsache, dass ihre Mutter weg war und er änderte auch nichts daran, dass sie um den Verlust ihrer Mutter trauerte. Dass es wehtat, das ihre Mutter für immer weg war.
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