Maria Vieira - zerbrochene Gefäße

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"zerbrochene Gefäße" ist ein kurzer Blick in den Spiegel der Zeit, in der Gerhard Schröder als deutscher Kanzler die Hartz IV Gesetze in Kraft treten ließ. Nicht nur die Maßnahmen zur Konsolidierung des Bundeshaushalts, sondern auch der Verfall der Arbeitgebermoral führte bei vielen Bürgern zu Gefühlen der Resignation und Wut. Diese Atmosphäre greift die Autorin auf. Anhand des Schicksals von Tamar, einer jungen Anwaltsgehilfin, erzählt sie auf einfühlsame Weise wie entwürdigend es sein kann, trotz beruflicher Qualifikation nur einen Minijob zu haben. Tamar kämpft um ihr Recht auf einen Vollzeitjob, um Ihr Selbstbewusstsein und um ihre Würde.

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Maria Vieira

zerbrochene Gefäße

Novelle

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Inhaltsverzeichnis

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Der Säugling

Die Revolte

Das Echo

Impressum neobooks

Der Säugling

Wenn meine Erinnerung mich nicht trügt, habe ich schon kurz nach dem Umzug angefangen, auf Ungerechtigkeit sensibel zu reagieren. Alles war fremd. Die Sprache, in der ich zu sprechen angefangen hatte, konnte niemand verstehen und zwischen mir und dem Ort, wo ich verstanden und geliebt worden war, lagen plötzlich ganze Länder. Der erste Urlaub kam viele Jahre später. Doch da war mir die Heimat schon fremd geworden. Meine Welt war verdreht und ich konnte nur noch ahnen, dass ich die Menschen, die ich hatte zurücklassen müssen, liebte. Es gab keine Gewissheit, denn mittlerweile hatte ich ihre Sprache verlernt.

In der Zwischenzeit war ich zurechtgekommen. Nie besonders gut, denn die Fremde machte mir Angst. Sie kam mir schrill vor. Und meine Stimme war sehr leise, bis sie irgendwann ganz verklang. Ich wurde still, weil Francesco es befahl. Und von da an war die stumme Wut meine ständige Begleiterin. Ich war die wütende Fremde, die unbeachtet blieb und die sich irgendwann selbst in der Fremde verlor. Dennoch gab es mich. Irgendwie ahnte ich, dass ich existierte. Jemand hatte einen Samen in mich hinein gepflanzt und ich wusste, eines Tages würde sich meine Geduld auszahlen. Dann könnte ich sprechen. Dann könnte ich sagen, dass ich da bin und leben will.

Heute ist dieser Tag gekommen. Und ich weiß nicht, warum ich es ausgerechnet jetzt und ausgerechnet Ihnen erzähle. Schließlich kenne ich Sie kaum und doch vertraue ich Ihnen aus irgendeinem Grund. Natürlich kenne ich Ihren Namen und Ihr Gesicht. Doch schon was Sie beruflich wirklich machen, und ob Sie Familie haben oder alleinstehend sind, entzieht sich meiner Kenntnis.

Ich hätte nie gedacht, dass es in unserer Gesellschaft möglich ist, jemanden wertzuschätzen, von dem man so wenig weiß. Sie haben mein vollstes Vertrauen. Lange Zeit wusste ich nicht, wie es sich anfühlt, jemandem zu vertrauen. Francesco habe ich vertraut. Er war aufmerksam. Als ich noch sprechen und lachen konnte, hat er einen meiner kleinen Monologe mit einem Kassettenrekorder aufgenommen. Ich war so ein hübsches Kindergartenkind und auch lustig! Aber danach habe ich nicht mehr gelacht. Die erste große Ungerechtigkeit meines Lebens heißt Francesco. Ja, das ist sein richtiger Name. Ich habe kurz überlegt, ob ich Ihnen einfach einen anderen Namen nennen soll. Doch vielleicht würden Sie meine Wut dann nicht so gut verstehen können. Haben Sie einen Francesco in Ihrem Leben? Er musste nie für seine Tat büßen. Keiner hat Francesco angeklagt. Deshalb tue ich es jetzt. Er heißt Francesco! Alle Welt soll es erfahren! Und warum hätte ich ihm nicht vertrauen sollen, wo er doch der Freund von Mutter war?

Unser beider Beziehung ist ein bisschen so, wie es am Anfang zwischen mir und Francesco gewesen ist. Auch von ihm wusste ich außer seinem Namen nicht viel und ich habe ihm vertraut.

Lange, bevor ich Sie kennengelernt habe, fing ich an, nach Gott zu fragen. Daran muss ich gerade denken. Auch mit Gott ist es so, wie es zwischen uns beiden ist und auch, wie es zwischen mir und Francesco anfangs war. Außer dem Namen weiß ich nicht viel über Gott, aber doch ein bisschen mehr als über Sie oder über Francesco.

An der Vertrauensfrage bin ich allerdings seit Francesco immer wieder gescheitert. Durch ihn habe ich die Hölle sehr früh kennengelernt. Zuerst habe ich so viel mit ihm spielen und lachen können. Es war das Recht auf meine kindliche Existenz, das er mir in der ersten Zeit noch zugestanden hat. Danach hat er mich an ein existenzielles Minimum gebracht. Wie kann ich es Ihnen beschreiben? Stellen Sie sich vor, jemand, der größer und stärker ist als Sie, drückt Ihren Kopf unter Wasser, um Sie danach mit aller Wucht in die Ecke eines kahlen Raums schleudern.

Irgendwie hat Francesco sich meiner bemächtigt und ich bin ihn nie wieder losgeworden. Auch nicht, nachdem Mutter ihn rausgeschmissen hat. Meine stumme Wut konnte sie nicht verbannen. Ich wurde die wütende Fremde, die niemand bemerkte, weil sie so still war. Von da an blieb mir nichts mehr verborgen. Ich entwickelte also schon von Kindesbeinen an einen extremen Sinn für Gerechtigkeit, sonst hätte ich diese Sache, die ich Ihnen eigentlich erzählen möchte, vermutlich ganz lässig hingenommen. Aber durch Francesco war ich sensibel geworden für die Missstände dieser Welt und bereit, sie zu bekämpfen. Francesco verlor sein Gesicht und wurde zu einem Dämon, der sich immer und immer wieder vervielfältigte. Den Rest der Kindheit verbrachte ich nun damit, alleine gegen Dämonen anzukämpfen. Sie waren überall. Ab und an ging ich als stolze Siegerin aus einem solchen Kampf hervor und dann belohnte ich mich für meine Tapferkeit gerne mit einem Brausebonbon, das Zunge und Lippen färbte.

Auch heute bekomme ich noch Appetit, wenn ich etwas als ungerecht empfinde. Meinen Mut zur Veränderung könnte man also als ein Relikt dieser frühkindlichen Geschmacksorientierung bezeichnen. Aber es hat sich etwas verändert. Sehen Sie, meine Belohnung sind jetzt diese frischen Leipziger Lerchen. Ich fühle mich in diesem Augenblick schwach und verwundet, wie so oft nach einem Kampf, aber zum ersten Mal nicht wie eine einsame Heldin, die aus eigener Kraft gesiegt hat. Schauen Sie doch nicht so besorgt. Ich habe zwar eine Grenzerfahrung gemacht, fange aber an, Worte zu finden.

Dass es Grenzen gibt, wusste ich natürlich schon als Kind. Aber Francesco hatte sie verrückt. Und danach hatte er mir verboten zu sprechen. Können Sie sich vorstellen, wie meine Schlachtfelder aussahen? Strenge Lehrer, hänselnde Schüler, katastrophale Mathematiknoten, hinter allem lauerte eine von Francescos Fratzen. Aber ich konnte nicht darüber reden. Ich konnte niemanden erklären, wie ungerecht ich alles fand. In der Schule beneidete ich jene, die sich durchsetzen konnten. Gleichzeitig beschuldigte ich sie insgeheim, meine Ideen gestohlen zu haben. Denn obwohl ich nicht aussprechen konnte, was ich dachte, gab es mich ja. Wenn es hart auf hart gekommen wäre, hätte ich vermutlich doch nicht mit den dominanten Persönlichkeiten tauschen wollen. Vielleicht hätte es mir nicht gelegen, mich in den Mittelpunkt zu stellen. Ich weiß es nicht. Francesco hat verhindert, dass ich mich ausprobieren konnte. So entwickelte ich mich zur scharfsinnigen Beobachterin. Sobald etwas Ungerechtes geschah, solidarisierte mich mit den Schwächeren. Manchmal entstand auf diese Weise eine richtige Freundschaft im Lager der Unterdrückten. Und manchmal blieb es bei der moralischen Unterstützung, die ich Schwächlingen durch Blicke und Gesten zukommen ließ. Fühlte ich mich selbst ungerecht behandelt, war der Kampf intensiver. Hier und da gesellte sich selbstverständlich auch jemand zu mir. Und wenn sich niemand aus Fleisch und Blut fand, der mir beistand, kamen die Freunde meiner Fantasie mir zu Hilfe. Nach jeder gewonnenen Schlacht gab es zur Belohnung etwas für die Sinne: Ein färbendes Brausebonbon, dem wiederum meine Backenzähe zum Opfer fielen. Doch das ist eine andere Geschichte.

Sie fragen sich, weshalb ich mit dem Sieg etwas, was den Mundbereich farblich neu gestaltet, verbinde? Es hängt mit seiner breiten Funktionsweise zusammen. Doch ich möchte nicht langweilig erscheinen und deshalb nur kurz erwähnen, dass der Mund als solcher die erste Überlebensquelle darstellt. Es existiert ja sogar ein Begriff, der meine Theorie untermauert: Der Säugling! Würden wir in der ersten Zeit unseres Lebens etwas anderes tun, als saugend Nahrung aufnehmen, hätte sich das in der Wortfindung sicherlich niedergeschlagen. Hat es aber nicht. Der Säugling empfindet einen Sieg über eine ihm unangenehme Situation – und in den meisten Fällen bekämpft er sein Hungergefühl - indem er sich sattsaugt und erobert sich so regelrecht Zug um Zug das Recht auf seine Existenz. Ich finde das durchaus nicht dramatisch formuliert. Denken Sie doch nur daran, was geschähe, wenn der Säugling nicht saugen würde.

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