Lucie Schmidt
Die zerbrochene Tänzerin
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Inhaltsverzeichnis
Titel Lucie Schmidt Die zerbrochene Tänzerin Dieses ebook wurde erstellt bei
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Impressum neobooks
Die zerbrochene Tänzerin
Es war einmal ein alter Dachboden. Ganz vergessen von der Welt verbarg er seine Schätze unter einer dicken Decke aus Staub. Zum Beispiel den antiken wurmstichigen Schrank. Trotz seines Alters stand er stolz an seinem Platz. Oder das verrostete Schaukelpferd, das es sich in einer Ecke gemütlich gemacht hatte. Bilder schliefen unter schweren Tüchern, und Truhen voller Erinnerungen stapelten sich kreuz und quer im ganzen Raum. Und alles, einfach alles war von Staub bedeckt.
Von all seinen Schätzen mochte der Dachboden jedoch die kleine Spieluhr am liebsten. Sie war so unscheinbar, dass man sie leicht übersehen konnte. Kaum größer als eine Schachtel. Der Staub tat das Seine. Er legte sich über die goldverzierten Ornamente und füllte die feinen Schnitzereien auf. Bis nichts mehr von ihnen zu erkennen war.
Doch so unscheinbar die Spieluhr auch wirkte, jeder auf dem Dachboden wusste, wie besonders sie war und wie viel Magie in ihr steckte. Denn der Dachboden war mit dem Wind befreundet und nur dieser konnte die Spieluhr öffnen.
Wenn er vorbei kam und behutsam den Deckel hob, wunderte man sich zuerst. Denn in der Mitte der Spieluhr drehte keine Ballerina ihre Pirouetten. Die Tanzfläche und der Deckel waren auch nicht mit Samt ausgekleidet, sondern komplett mit glatten, grau schimmernden Spiegeln bedeckt, in denen sich jedoch nichts spiegelte. Und anstatt sofort eine Melodie zu spielen, blieb diese Spieluhr stumm. Man brauchte schon etwas Geduld, um ihre Magie zu entdecken.
Geduld besaß der Dachboden jedoch genug und so kannte er mittlerweile ihr Geheimnis. Er wusste zum Beispiel, dass sie jedes Lied nur ein einziges Mal spielte. Und er wusste um die kleine Tänzerin, die in ihr lebte. Tief im Innern verbrachte sie ihre Zeit, kuschelte sich in ihre Kissen und genoss die Ruhe und Geborgenheit, die ihr die Spieluhr bot. Doch wurde die Spieluhr geöffnet, änderte sich die Welt der Tänzerin innerhalb weniger Minuten.
In diesen Minuten fühlte sich die Spieluhr in ihre unmittelbare Umgebung ein, nahm die Stimmungen wahr, die Gefühle und Regungen jedes einzelnen Atoms, das sich in ihrer Nähe befand, und erschuf nur für diesen einen besonderen Moment eine eigene Welt.
Wenn dies geschah, begannen die Spiegelflächen Strukturen zu bilden und es entwickelten sich die verschiedensten Szenerien. Und jede Einzelne von ihnen war in sich lebendig. Egal, ob es sich um eine neblige Berglandschaft handelte, in der ein Wasserfall rauschte, oder um einen prachtvollen Saal, der nur von Kerzen erleuchtet wurde. Alles war möglich. Dann erst erklang die Musik und die Tänzerin wurde aus ihrer Kissenlandschaft hinauf auf die Tanzfläche gezogen.
Einmal beobachtete der Dachboden, wie es mit einem einzigen Paukenschlag geschah. Von einer Sekunde auf die andere schoss die Tänzerin nach oben. Die Arme weit ausgestreckt. Die Kleider schmutzig und zerrissen, warf sie ihre langen, braunen Haare zurück. Nur, um sich in einem kalten, dunklen Kellerloch wiederzufinden und dort alle die Wut und Verzweiflung herauszutanzen, die der Wind mitgebracht hatte.
Ein anderes Mal wiederum brachte der Wind das Gefühl eines erwachenden Frühlingstages und den Beginn neuen Lebens mit. Die Tänzerin wurde sanft nach oben gezogen und fand sich auf einer Wiese wieder. Das Gras war frisch und noch gänzlich mit Tau bedeckt. Sie konnte den Frühling fast schon riechen. Die braunen Haare waren zu einem Zopf geflochten und sie trug ein leichtes, weißes Kleid, das bei jedem Schritt fröhlich mitschwang. Die Musik erklang und die Tänzerin wurde von der Vorfreude, der Hoffnung und der Neugierde so angesteckt, dass sie aus lauter Übermut sogar Purzelbäume in ihren Tanz einbaute. Selbst als sie schon längst wieder gemütlich in ihren Kissen lag, hallte diese Freude in ihr nach und sie konnte einfach nicht aufhören zu lächeln. Nicht einmal der Dachboden konnte sich dieser positiven Energie erwehren.
Und der Wind? Der zog erleichtert wieder in die Welt hinaus. Denn er war all die Energien losgeworden, die er auf seinen Reisen eingesammelt hatte.
So geschah es viele Jahre. Bis der Wind eines Tages wieder einmal vorbei kam und sich alles änderte.
Der Tag war drückend heiß und die Luft hing schwer und träge im Raum. Daher begrüßte der Dachboden den Wind mit Erleichterung. Erhoffte er sich doch etwas Abkühlung. Der Wind jedoch war nicht er selbst. Anstatt, wie sonst, leichtfertig durch den Dachboden zu stürmen und jede Menge Staub aufzuwirbeln, hielt er direkt auf die Spieluhr zu und öffnete sie.
Es dauerte nicht lange, bis eine zerklüftete Felslandschaft entstand. Klippen fielen dreizehn Meter tief, bis sie auf kräftige Wellen trafen, die sich wieder und wieder gegen die Steine warfen. Wildes Gestrüpp trotzte jedem Wetter und hier und da konnte man sogar eine Möwe hören, die in der Ferne kreischte.
Die Tänzerin erschien barfuß. Langsam tastete sie sich auf dem unebenen Boden zum Rand der Klippe vor und warf einen unsicheren Blick nach unten. Sie sog den Geruch von Meer und Salz ein und als sie aufblickte, stockte ihr der Atem. Sie kannte das Meer. Sie hatte schon ein paar Mal an einem Strand getanzt. Doch das hier war etwas Anderes. So hoch oben auf der Klippe konnte sie bis zum Horizont sehen, der unendlich weit weg zu sein schien. Noch nie war so eine Weite vor ihren Augen entstanden und noch nie hatte sie das Gefühl gehabt, über das Ende der Welt hinaussehen zu können.
Dann setzte die Musik ein. Voller Ungeduld zerrte sie an ihr. Warf sie zurück und ließ sie wieder fliegen. Die Melodien waren wirr und durcheinander, als wüssten sie nicht, was sie fühlen sollten. Rastlosigkeit und Unruhe wechselten sich mit ruhigen, sinnlichen Passagen ab, nur, um im nächsten Moment wieder ausgelassen und wild zu sein. Der Tänzerin machte dies allerdings nichts aus. Sie liebte es, sich zur Musik zu bewegen und genoss jeden einzelnen Ton und die Bewegung, die er bei ihr auslöste.
Der Dachboden sah fasziniert zu. So leidenschaftlich hatte er die Tänzerin noch nie tanzen gesehen. Jeder Schritt, jede Handbewegung, jede Drehung schien eins mit der Musik zu sein. Er konnte nicht einmal sagen, ob die Musik die Tänzerin beeinflusste oder ob es umgekehrt war. Doch so unberechenbar die Musik an diesem Tag auch war, sie verzauberte dennoch jeden, der sie hörte.
Die Tänzerin wirbelte herum, setzte zu einem kleinen Sprung an und landete unglücklich in einer unscheinbaren Mulde. Kurz knackte es, als sie mit dem Fuß wegknickte und mit einem schmerzerfüllten Schrei auf dem Boden aufschlug. Augenblicklich verstummte die Musik. Geschockt hielt der Dachboden den Atem an. Und selbst der Wind wich erschrocken zurück.
Nur am Rande nahm die Tänzerin wahr, wie der Horizont verblasste und die Klippen begannen, sich aufzulösen. Der salzige Geruch des Meeres verschwand. Zurück blieb nur die drückende Hitze, die sich auf dem Dachboden angestaut hatte.
Die Tänzerin kauerte auf der grauen Spiegelfläche. Tränen liefen ihr über die Wangen, als sie vorsichtig ihren Knöchel abtastete. Er fühlte sich heiß an und begann schon anzuschwellen. Auch die Schmerzen wurden schlimmer. Die Tänzerin wollte nur noch zurück in ihre Spieluhr und sich in ihre Kissen kuscheln, bis ihr Knöchel wieder in Ordnung war.
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