Ich war so daran gewöhnt, krude Bemerkungen wegen meines asiatischen Aussehens zu hören, dass es mich nicht traf. Ich nahm den Ball aber gerne auf und erwiderte: "Besser Ching Chang Chong als Popeye."
Nach dieser Begegnung hassten wir uns ein paar Wochen, aber irgendwie konnten wir das nicht durchhalten, nachdem wir feststellten, dass wir dieselben Lehrer doof fanden, die gleichen Fächer mochten und sogar über die gleichen Dinge lachen mussten. Also freundeten wir uns an. Und wir blieben Freundinnen.
Katharina wurde groß und schön, ich blieb klein und exotisch.
Sie stammte aus einer alteingesessenen Familie, ich war das kleine Mädchen, das direkt von der Cap Anamour in die barmherzigen Arme der guten Bauersleute Hauser gefallen war.
Sie wirkte immer vornehm und zurückhaltend, ich einfach nur wild und ungezähmt. Aber das wunderte niemanden, denn Jedermann nahm an, dass dort, wo ich herkam, wohl alle Menschen so seien, in dem Land, das noch vom Krieg gezeichnet war und inmitten einer Generation, die noch an Blut und Rasse glaubte. Und so sehr wir uns auch immer unterschieden haben, so gibt es – gab es – eine fraglose Akzeptanz des anderen.
Und das ist sehr kostbar. Und ich bin Katharina sehr dankbar dafür. Werde es immer sein.
Jetzt stehe ich vor dem hübschen Klinkerhaus in der Brackstraße in Hamburg-Niendorf. Ich bin erschöpft und fühle mich etwas benommen, als ich den Gartenweg zum Eingang des Hauses entlang gehe. Es ist halb zwei nachts. Sherlock und Zita trotten schwanzwedelnd hinter mir her, sie kennen sich hier aus und freuen sich. Sie wissen ja nicht, dass wir auf den Weg in ein Trauerhaus sind. Thomas hat mich offensichtlich schon gesehen, er steht bereits in der Eingangstür. Wir schließen uns wortlos in die Arme, die Hunde hecheln und tänzeln aufgeregt um uns herum, Sherlock lässt ein tiefes Bellen hören. Ich verschwinde in Thomas Leibhaftigkeit, er ist ein großer, untersetzter Mann, und spüre, wie er bebt und schluchzt. Er drückt mich fest an sich, nimmt mir fast die Luft, aber das ist egal. Ich habe im Moment sowieso keine Lust zu atmen. Dann gibt er mich frei, tritt einen Schritt zurück und schaut mich aus gepeinigten Augen an.
"Ach, Linh", sagt er nur erstickt, nimmt mir die Sporttasche, die ich die ganze Zeit gehalten habe, aus der Hand und winkt mich samt Hunden in das Haus.
Es riecht nach Katharina und jetzt wächst der Kloß in meinem Hals. Ich schlucke ihn fürs erste hinunter. Ich werde gebraucht. Es gibt Dinge zu klären.
"Malte?", frage ich leise.
"Er ist im Bett. Eingeschlafen vor lauter Erschöpfung, aber erst vor einer halben Stunde. Er sagt, dass er auch sterben will." Thomas Stimme bricht, er wischt sich mit einer energischen Bewegung durch das Gesicht, die Tränen fließen ungerührt nach.
"War Julia schon hier?", frage ich. Julia ist Katharinas jüngere Schwester und Malte liebt seine Tante heiß und innig. Jede Unterstützung ist jetzt gefragt.
"Sie kommt morgen. Aus Brasilien. Sie wäre gestern schon gekommen, aber das Flugpersonal hat gestreikt."
Julia ist Ingenieurin und konstruiert Staudämme. In der ganzen Welt.
"Gut!" sage ich nur.
Wir stehen jetzt in der Küche, sie ist hell erleuchtet und das kalte Licht gibt Thomas' Elend gnadenlos preis. Wir setzen uns an den großen Holztisch und klären die Trivialitäten. Das Bett im Gästezimmer unter dem Dach ist für mich bezogen, Handtücher liegen bereit. Thomas wäre nicht Thomas, wenn er nicht selbst im größten Elend an solche kleinen Dinge gedacht hätte. Über den Tisch hinweg nehme ich seine Hand und spüre erleichtert, dass mein jahrelanges Training zu wirken beginnt. Ich werde ruhig und klar, ich habe mich im Griff, ich konzentriere mich völlig auf den Menschen vor mir.
"Wann genau ist es passiert?" frage ich ruhig.
"Vor drei Tagen. Aber ich weiß es erst seit gestern. Ich... ich musste sie identifizieren." Er stockt, schluckt."Sie wollte nach Berlin fahren, zum DO-G Kongress. Dann hat man sie in diesem Waldstück gefunden, an der Autobahn." Wieder versagt seine Stimme. Ich schweige und gebe ihm Zeit.
Katharina hat mir von diesem Kongress erzählt. Die Hauptversammlung der Deutschen Ornithologischen Gesellschaft. Sie findet alljährlich an unterschiedlichen Orten statt. Sie freute sich darüber, dass der Kongress in diesem Jahr in Berlin ausgetragen wird. Katharina hat Freunde dort. Sie ist eine der renommiertesten Zoologinnen Deutschlands. Ihr Schwerpunkt sind Krähenvögel. Und auch, wenn sie physisch nicht mehr anwesend ist, wird diese Tatsache sie noch eine ganze Weile überdauern, weil ihre Forschung in diesem Bereich einzigartig ist. Sie hat meinen Blick auf diese Tiere verändert.
Thomas weint leise, ich lege ihm sanft meine Hand auf die Schulter. Mein Herz schlägt schwer und wütend in meiner Brust, aber mein Kopf läuft auf Autopilot.
"Ich mache uns einen Tee!", höre ich mich sagen."Hast du schon etwas gegessen?"
Thomas schüttelt den Kopf. Seine Stimme klingt so, als wolle sie sich schnell wieder in seinem Innersten verkriechen.
"Ich wollte dir eigentlich etwas kochen, du hast so eine lange Fahrt hinter dir, aber ich habe es nicht geschafft. Es tut mir leid. Malte und ich kriegen einfach nichts runter." Jetzt brechen alle Dämme."Ich... ich weiß nicht, w... wie wir weiter machen sollen ohne sie. Ich... ich weiß einfach nicht... Wie hast du das nur geschafft nach Tom?"
Die Erwähnung von Tom schickt immer noch ein Brennen durch meinen Körper, aber sie streckt mich nicht mehr zu Boden. Tom war mein Sohn. Er wurde nur zwei Jahre alt. Er starb vor zehn Jahren.
"Ich habe nur einen Tag nach dem anderen gelebt.", sage ich jetzt.
"Wird es besser? Irgendwann?", fragt Thomas.
Die Frage habe ich schon oft gehört. Ich kann sie nicht beantworten, denn jeder trauert und leidet auf seine Weise. Aber ich bringe es nicht übers Herz, Thomas keine Antwort zu geben. Sein Blick zeigt, dass er sich jetzt an die Hoffnung klammert, die er glaubt von mir bekommen zu können, von mir, die schon dort war und trotzdem wieder lacht und das Leben genießt.
"Es wird anders. Und das Aufwachen morgens wird irgendwann leichter. Ich habe gute Menschen an meiner Seite, und das hast du auch. Das hilft sehr. Aber darüber solltest du dir noch keine Gedanken machen."
Jetzt gehe ich zu ihm hin und schließe ihn in die Arme. Selbst im Sitzen reicht sein Kopf bis an meine Schultern. Er drückt ihn an mich wie ein Kind. In der tiefsten Trauer werden wir alle wieder ganz klein. Die Hunde, die sich in einer Ecke der Küche niedergelassen haben, blicken fragend zu uns hinüber, dann wuchtet der große Sherlock sich hoch und lässt sich zu Thomas Füßen nieder, auch Zita kommt an und tut es ihm gleich. Es kann keinen besseren Lehrmeister für meine junge Hündin geben als diese alte, weise dänische Dogge.
Ich streichle Thomas durchs Haar und sage gar nichts, Worte spenden so wenig Trost. Aber unser Körper erinnert sich daran, wie es war, sich als Kind in den Armen der Eltern geborgen zu fühlen, wenn wir zu den Glücklichen gehören, denen dieses Geschenk zuteil wurde. Bei allen anderen bleibt es ein lebenslanges Sehnen. Unsere Haut wurde für Berührungen geschaffen.
Thomas schüttelt sich unter den heftig kommenden Schluchzern. Es geht mir mehr darum, dass er den Ton meiner Stimme hört und ich ihn wissen lassen will, dass ich bei ihm bin, als ich spreche.
"Ich habe ein frisches Huhn mitgebracht, und Gemüse. Die nächsten Tage kümmere ich mich um den Alltagskram. Jetzt musst du etwas trinken."
Ich löse mich von ihm und mache mich daran, Tee zu kochen. Wenn die Welt aus den Fugen gerät, sind die kleinen Dinge eine Landmarke, ein Halt. Über die großen Themen können wir morgen noch reden. Bei Tageslicht.
Ich schlafe in dieser Nacht nicht. Thomas' Körper ist irgendwann erschöpfter als seine Trauer und er geht ins Bett. Ich koche einen großen Topf Hühnersuppe, koche mir Kaffee, mache Inventur der Dinge, die besorgt werden müssen: Milch, Brot, Eier, Käse, etwas Obst und Gemüse, Mineralwasser. Ich spüle Geschirr, wechsle die Wischlappen und die Spültücher aus. Die Hunde spüren meine Unruhe und wechseln ihre Schlafposition häufig. Ich kann und ich will nicht schlafen, weil ich weiß, wie es ist, morgens nach einem solchen Ereignis aufzuwachen. Ich würde die Augen aufschlagen, mich kurz darüber freuen, im vertrauten Gästebett meiner Freundin zu liegen, bis die Realität mir einen kräftigen Tritt in die Magengrube verpasste. Der Schmerz würde mich den Rest des Tages kampfunfähig machen. Darum überspringe ich diesen ersten Schreckensmorgen und lege mich erst dann schlafen, wenn ich einen kleinen Schritt weiter bin und etwas mehr begriffen habe von dem, was hier vor sich geht.
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