„So haben wir aber nicht gewettet. Ich teile gern mein Bett mit dir. Aber ich werde mich nicht vertreiben lassen“, sagte ich. Ich schob sie etwas zur Seite und sie ließ es bereitwillig geschehen. Nun hatte meine WG einen neuen Mitbewohner. „Außerdem gelten bei mir Körperpflegerituale“, ergänzte ich noch, bevor ich einschlief.
Am nächsten Morgen frühstückten wir gemeinsam. Anschließend schnappte ich mir meine neue Mitbewohnerin und duschte sie. Erst jetzt sah ich, dass sie ein wunderschönes Fell hatte. Unbegreiflich, wie diese Hunde immer wieder den Glanz in ihrem Fell hatten. Dabei wurden sie kaum gepflegt. So sauber und gestylt gingen wir zusammen ins Reisebüro. Ihr Fell glänzte schwarz und braun in der Sommersonne.
Von nun an war Hinkebein meine ständige Begleiterin. Wenn ich mittags zum Strand ging, war sie bei mir und viel schneller als ich im Meer. Wenn ich nach Geschäftsschluss noch einkaufen musste, dann wartete sie in sicherer Entfernung. Ich konnte nur erahnen, welche Erfahrungen sie mit den Menschen gemacht hatte.
In den Wintermonaten leisteten wir uns den Luxus und gingen morgens über die Straße und dann in den angrenzenden Wald. Sie jagte davon und kam irgendwann wieder zurück. Auch wenn es regnete und ich das Büro nicht zu öffnen brauchte, unser Waldspaziergang war Pflicht. Ich konnte es kaum glauben, wie schnell sie war, obwohl ihre beiden Vorderpfoten so schräg zusammengewachsen waren. Einige Tage später erzählte mir ein Ladeninhaber, dass sie schon vor einem Jahr hier gewesen war. Ein Auto hatte sie überfahren. Er hätte sie damals zu einem befreundeten Tierarzt gebracht, der versucht hatte, ihre Beine wieder zu richten. Doch das war schwieriger als gedacht. Keiner hatte geglaubt, dass sie das alles überlebt hatte, denn schon kurze Zeit später war sie wieder verschwunden.
Abends dann heizten wir den Blechofen richtig ein. Denn der Winter in Antalya war ungemütlich, nass. Durch die Fenster zog es. Wir brauchten unbedingt unseren glühenden Ofen. Ich strickte und Hinkebein lag neben mir und schaute fern.
Sie teilte die Tage und Nächte mit mir. Die Hundehütte entstand am nächsten Tag, doch nicht mehr für Hinkebein, sondern für die anderen Straßenhunde. Der Wachmann war stolz auf sich und ich rang mir ein anerkennendes Lächeln ab.
Im März des darauffolgenden Jahres jedoch war mein Hinkebein paarungsbereit. Sie wollte nicht mehr jeden Abend mit mir nach Hause gehen. Ich ließ ihr die Freiheit. War sie doch ein Straßenhund. Ich freute mich schon auf Nachwuchs. Hoffte, dass mein Schatz einen hübschen Hundemann finden würde und sie gemeinsam eine Familie gründen könnten. Ich war so glücklich, denn da war auch ein recht hübscher Hundemann ständig in ihrer Nähe. Doch eines Morgens waren sie und ihr Mann nicht vor dem Büro. Stattdessen war der Wachmann noch da. Als er sah, dass ich kam, rannte er sofort zu seinem kleinen Häuschen und brachte Tee.
„Setz dich.“ Sein Ton ließ nichts Gutes erahnen.
„Was ist los? Wo sind Hinkebein und ihr Mann?“, fragte ich. Die eigenartige Stimmung konnte ich spüren.
„Bitte. Ich kann nichts dafür“, sagte er kaum hörbar.
„Bitte, setz dich“, wiederholte er.
Sanft drückte er mich auf eine Bank. Doch ich sprang hoch.
„Verdammt, was ist los? Sag‘ es mir!“ Ich wurde zunehmend ungehaltener.
„Wo sind die beiden Hunde?“ Mit wütenden Augen sah ich ihn an. Mir schwante etwas Furchtbares.
Ich fasste ihn an seinem T-Shirt.
Er griff nach meinen Handgelenken.
„Sie haben die beiden heute im Morgengrauen geholt.“
„Wer hat wen geholt?“
„Es ist Frühjahr. Da fahren sie rum und sammeln die Hunde ein.“
Langsam, ganz langsam stieg in mir eine Ahnung auf. Nein! Das konnte und durfte nicht sein. Mein Hinkebein war mit ihrem Mann von den Hundefängern geholt worden und zur Vergiftungsaktion an den Düden-Wasserfall gebracht worden. Ich musste mich beeilen. Die Zeit war knapp.
Ich riss mich los.
„Kannst du mir einen Gefallen tun?“, fragte ich den Wachmann.
„Du weißt, dass ich alles für dich tue, weil ich dich achte.“
„Wirklich alles?“
„Ja.“
„Gut. Dann wirst du heute mein Reisebüro leiten. Ich nehme das Auto und fahre zum Wasserfall. Ich muss versuchen, dass ich Hinkebein und ihren Mann retten kann.“
Er nickte und sprach: „Tue, was du tun musst. Ich bleibe hier. Aber bitte fahr langsam. Ein toter Engel nutzt niemandem.“ Was hatte er da gerade gesagt? Ich sah ihn verständnislos an.
„Ja, weißt du denn nicht, wie man dich hier hinter vorgehaltener Hand nennt?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Deutscher Hundeengel.“ Er grinste breit. Auch ich musste grinsen.
Ich war schon auf dem Weg zum Auto. Als ich diese letzten Worte vernahm. Ruckartig drehte ich mich um und warf ihm einen Handkuss zurück.
Scheinbar ohne Sinn und Verstand raste ich zum Düden-Wasserfall. Ich kannte die Stelle, wo die Säuberungsaktion, wie man die Vergiftung der Straßenhunde in der Türkei bezeichnet, durchgeführt wurde. Ich erreichte den Platz, sprang aus dem Auto. Der Schweiß lief wie ein Wasserfall von meiner Stirn. Doch ich rannte, als würde mein Leben davon abhängen. Da sah ich ein Auto stehen. Sie luden gerade Hunde aus. Eine unbändige Wut stieg in mir auf. Niemand konnte diese Schweinerei unterbinden.
Jedes Jahr die gleiche Prozedur. Mit Beginn der Hauptsaison kommen die staatlichen Veterinäre und sammeln die Hunde ein. Sie werden dann geimpft, gechipt und kastriert. Die Stadt bezahlt dafür eine Menge Geld. So will man der Hundeplage Herr werden. Und auch wenn ich diese Tiere über alles liebe, muss ich dennoch zugeben, dass sie an manchen Stellen schon zur Plage geworden sind. Doch die Vorgehensweise der Stadt soll der unkontrollierten Vermehrung Einhalt gebieten, was ich gut und richtig finde.
Aber dann kommen die jährlichen Säuberungsaktionen, wie man das Vergiften der Hunde netterweise bezeichnet. Im Frühjahr werden von der Stadt Hundefänger angeheuert, die die Tiere einfangen und sie dann zum Wasserfall bringen. Hier wurde schon vergiftetes Fleisch ausgelegt und die Tiere sterben einen qualvollen Tod. Was für eine sinnlose Aktion.
Und es war wieder so weit. Ich war wie von Sinnen.
„Halt. Stopp“, schrie ich.
Zwei Männer drehten sich zu mir um.
Als ich in ihre Gesichter sah, stieg in mir Hass auf, Hass auf diese Gesichter, die den Spaß an ihren Handlungen offen zugaben.
„Wo sind meine Hunde?“, schrie ich die beiden Galgenvögel an.
„Woher sollen wir das wissen?“ Ein hämisches Grinsen schickten sie hinterher.
Mit diesen Worten wandten sie sich wieder ihrer Arbeit zu.
„Hey, wo kommt ihr her?“ Diese Frage klang schon aggressiver.
„Von Kemer. Und jetzt nerv nicht so. Lass uns unsere Arbeit machen“, gaben sie gelangweilt zurück. Mein Ton und mein Schreien beeindruckten sie keineswegs.
Aber wo waren Hinkebein und ihr Mann?
Ich lief wie in Trance Richtung Wasserfall. Gleich zu Beginn der Wiese lagen schon die ersten Tiere, die sich in den letzten Atemzügen wanden. Mir drehte sich der Magen um. Mein Herz spürte ich in meinem Kopf hämmern. Grausam mussten sie den Weg über den Regenbogen beschreiten. Mir traten die Tränen in die Augen. Ich rannte kreuz und quer. Überall stieß ich an Kadaver oder an Hunde, die gegen den unbesiegbaren Tod ankämpften. Besinnungslos, ohne Plan hastete ich umher. Ich hatte schon fast die gesamte Wiese durchkämmt, als ich wie angewurzelt stehen blieb. Da lag Hinkebeins Mann. Er war schon über den Regenbogen gegangen. Tränen quollen aus meinen Augen. Gleich neben ihm lag Hinkebein. Sie war noch nicht tot. Doch ich sah, dass ich sie nicht mehr retten konnte. Sie zuckte, kämpfte gegen den Tod an. Ich kniete neben ihr nieder, hielt ihr linkes Vorderpfötchen. Die rechte Vorderpfote lag in der Pfote ihres Mannes. Als hätten sie sich geschworen, einander nie zu verlassen. Der Tränenschleier verhinderte eine klare Sicht.
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