Als er kam, wischte sie sich schnell die letzten Tränen vom Gesicht. Doch dabei verschmierte sie nur alles.
„Los, komm zieh dich an, wir spazieren an den Strand. Aber erst mach dein Gesicht sauber. Das sieht schwarz aus“, sagte er etwas rüde. Er war dabei mehr ärgerlich auf sich selbst als auf sie. Widerwillig zog sich Kiki eine warme Jacke an, schlüpfte in ihre Stiefel und band sich einen dünnen Schal um. Dann gingen sie beide aus dem Haus und über die Straße. Sie wanderten durch den Wald in Richtung Strand. Wie nicht anders zu erwarten, telefonierte Ertan während der gesamten Zeit. Plötzlich fing er an zu lachen, doch da Kiki kein Türkisch verstand, wusste sie auch nicht, worüber er lachte. Er hakte sie unter und rannte mit ihr zurück. Verwirrt folgte sie ihm. Sie hatte auch keine andere Wahl. Zu Hause angekommen, telefonierte er wieder.
Kiki wollte sich wieder ausziehen, doch in seinem Macho-Ton befahl er: „Lass die Sachen an. Wir gehen gleich wieder los.“
Da Kiki schon mit der ganzen Situation total überfordert war und dann noch nicht einmal ahnte, was er vorhatte, rannte sie ins Schlafzimmer und warf sich aufs Bett und heulte hemmungslos. All das schien Ertan überhaupt nicht zu interessieren. Er hatte seinen Spaß. Es mochte wohl eine Viertelstunde vergangen sein, da riss er die Tür auf, zog sie vom Bett, schob sie aus der Wohnung in den Fahrstuhl und abwärts ging es. Vor dem Haus stand ein Auto. Daneben lümmelte sein Freund auf dem Autodach.
Mit einem Grinsen auf dem feisten Gesicht sagte er: „Mann, wisch dir deine Tränen ab. In dem Auto wird nicht geflennt.“
„Ihr seid wie immer sehr nett“, zischte sie und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Es entging niemandem, dass sie nicht nur traurig, sondern auch sehr verärgert war. Keiner schien sie hier zu verstehen.
Immer noch grübelnd, wie sie doch noch nach Hause kommen konnte, stieg sie in das Auto. Zuerst brachten sie den Freund nach Hause, der ihnen einen schönen Tag noch wünschte. Kiki nickte dankend. Was soll daran noch schön werden, sagte sie sich im Stillen. Ich hocke hier fest. Eigentlich wollte ich Weihnachten bei meiner Familie sein. Aber Verständnis kann man von euch sowieso nicht erwarten. Das wäre zu viel verlangt. Dann fuhr Ertan los.
„Wohin fahren wir jetzt?“ fragte Kiki mit gereizter Stimme.
„Lass dich überraschen“, gab er kurz zurück.
Sie konnte sich nicht an der Fahrt erfreuen. Sie durchfuhren einen Tunnel und was danach kam, ließ ihren Mund offen stehen. Es war ein Tag vor Heilig Abend und sie fuhren eine Küstenstraße entlang. Die Sonne schien. Es war so gar kein bisschen wie Weihnachten. Ertan fuhr in eine Nebenstraße und hielt an.
„Was wollen wir hier?“ fragte Kiki beim Aussteigen. Stück für Stück spürte ihr Freund, dass sie sich nicht mehr lange gedulden würde. Eine Explosion stand kurz bevor. Schon der Weg in die Seitenstraße war eine holprige Angelegenheit. Ertan musste Schritttempo fahren, um nicht das Auto zu beschädigen, denn überall lauerten übergroße Schlaglöcher.
„Lass uns ein wenig das Meer genießen“, antwortete er während er sie in den Arm nahm. Sein Ton war nicht so ruppig wie zuvor.
„Sag mal, hast du überhaupt eine Vorstellung, wie es mir im Moment geht?“, fragte sie kratzbürstig.
„Du, meine kleine Kedi, es tut mir so leid“, antwortete er und streichelte ihr liebevoll über die Wange. „Ich weiß doch, dass du dich so sehr auf deine Kinder gefreut hast und auch auf deine Eltern. Aber wir müssen jetzt das Beste daraus machen. Hm?“ Mit traurigem Blick nickte sie. Er nannte sie immer nur Kedi, wenn er ihr zeigen wollte, wie sehr er sie liebte. Denn Kedi heißt im Türkischen Katze.
„Ja“, nickte Kiki, „ich weiß doch. Aber es tut so weh. Du weißt, meine Tochter ist jetzt ganz allein, weil wir zusammen nach Hause fahren wollten. Nun sitzt sie fest.“
Während sie so sprach, gingen sie eng umschlungen am Strand entlang. Durch den weichen Sand schlenderten sie zum Auto zurück. Ertan hielt ihr die Tür auf. Verdutzt sah sie ihn an. Das waren ganz neue Züge an ihm. Er umrundete das Fahrzeug, stieg ein und, noch bevor er den Motor anließ, telefonierte er noch einmal kurz. Während der Fahrt versuchte Kiki die bezaubernde Landschaft zu genießen. Der Weg führte sie in die Berge, weit weg von jeglicher Zivilisation. So empfand es Kiki zumindest in diesem Moment. Die Straßen wurden zu Feldwegen, es wurde immer steiler und kurvenreicher. Enge Wege, durch die sich das Auto quälte. Kiki fühlte sich nicht wohl, wäre am liebsten ausgestiegen und zurückgelaufen.
Ängstlich fragte sie: „Wo fährst du denn jetzt hin?“
„Warte es ab“, war die einzige Antwort, die sie erhielt. Warum frage ich denn überhaupt? Eine vernünftige Antwort bekomme ich von diesem Kerl ja doch nicht. Ihr Gesicht zeigte deutlich ihren Unmut.
Zwischendurch hielt er immer mal wieder an, wenn es einen besonders schönen Ausblick gab. Kiki versuchte, so gut es ging, diese Ausblicke zu genießen. Hin und wieder gelang es ihr auch mal, ihre Gedanken von Deutschland loszubekommen. Es ging immer höher in die Berge. Irgendwann gelangten sie an ein einsam stehendes Haus. Ein mulmiges Gefühl machte sich in ihr breit. Was soll ich hier? Was wollen wir hier? Ängstlich sah sie zu Ertan.
„Komm steig aus“, rief Ertan lachend.
„Nein, ich steige hier nicht aus“, war ihre Antwort. Zur Bekräftigung schüttelte sie vehement ihren Kopf.
„Los komm schon, stell dich nicht so an!“
„Nein! Das ist ja gruselig hier.“
Mit Nachdruck forderte Ertan sie auf auszusteigen. Nur zögerlich stieg sie aus dem Auto, ließ aber die Autotür offen, um schnell wieder hineinzuspringen, falls es notwendig sein würde.
Durch zwei Bretter, die Fenster darstellen sollten, schaute eine alte Frau mit einem weißen Kopftuch hervor. Sie sagte etwas, das Kiki aber nicht verstand. Ihr wurde ganz flau in der Magengegend. Ertan antwortete ihr und ging dann Richtung Hof. Kiki folgte ihm, denn sie wollte nicht allein stehen bleiben. Plötzlich verschwand er hinter einer halb eingefallenen Hütte. Kiki suchte nach einem Weg, da überall Matsch war. Und noch während sie so suchte, sprang sie etwas an. Sie geriet ins Wanken.
Ertan rief noch: „Pass auf.“ Doch es war schon zu spät. Sekunden später stand ein riesiger Hund vor Kiki. Erschrocken lehnte sie sich zurück.
Es war ein Schäferhund. Ein ziemlich großer noch dazu
„Darf ich vorstellen? Das ist Cakal. Mein Hund.“
„Du hast einen Hund?“, fragte Kiki ungläubig.
„Ja“, antwortete er mit einem Grinsen, „und er wird mit uns Weihnachten feiern und dann bei uns bleiben.“
„Wie? Wie meinst du das?“
„Los, lass uns schnell hier weg“, sagte er, schob den Hund ins Auto und Kiki hinterher.
Während der Rückfahrt erzählte er Kiki, weshalb Cakal auf diesem Bauernhof war. Als Reiseleiter hatte er wenig Zeit gehabt, sich um das Tier zu kümmern. Hin und wieder war er tagelang unterwegs gewesen. Dann war er gezwungen, Cakal vor dem Reisebüro anzubinden. Dass es so nicht weitergehen konnte, wurde ihm schnell bewusst. Doch was sollte geschehen? So hatte er beschlossen, den Hund bei dieser Familie abzugeben, oder besser gesagt in Pflege zu geben. Kiki sah ihn skeptisch an.
„In Pflege? Das ist nicht dein Ernst?“, hakte sie nach.
„Doch. Ich dachte, er sei hier gut aufgehoben. Dass er wieder nur an der Leine hängt, wusste ich nicht.“
„Jetzt, da du bei mir bist …“, fuhr er nach einer Pause fort. Sie neigte den Kopf zur Seite.
„Was willst du mir sagen?“, hakte sie nach, ahnte jedoch schon die Antwort, die sie erhalten würde.
„Ja, er kann doch jetzt bei uns bleiben. Wir sind zu zweit und können uns gemeinsam um ihn kümmern. Was hälst du davon?“
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