Hat sie vielleicht keinen Hunger, schoss es mir durch den Kopf. Und während ich noch darüber grübelte, wagte sich eine kleine schwarze Pfote nach vorn und angelte sich ein Stückchen Wurst, zog es zu sich heran. Die schwarze Nase von Hinkebein beschnüffelte die Wurst und dann gab es kein Halten mehr. Ruck-Zuck landete das Stückchen da, wo es hin gehörte – in dem hungrigen Bauch.
Was dann geschah, konnte ich kaum fassen. Sie erhob sich, tat so, als sei ich gar nicht da und verschlang ihr Frühstück. Ich hockte noch immer da. Meine Beine begannen langsam zu schmerzen. Mich zu erheben, wagte ich dennoch nicht. Gern hätte ich sie auch gestreichelt, aber auch das getraute ich mich nicht. Als der weiße Polystyrol-Napf leer war, zog sie sich wieder zurück. Ich sah sie glücklich lächelnd an und auch sie war anscheinend zufrieden und satt. Ich beobachtete sie noch eine Weile, bevor ich mich wieder ebenso langsam erhob, wie ich mich hingehockt hatte. Ich wandte mich der anderen Straßenseite zu, um mein Büro für die Kunden vorzubereiten.
Als ich fertig war, wollte ich noch den Sonnenschutz herunterkurbeln. Ich trat aus dem Büro und machte sofort einen Satz zurück. Direkt vor der Tür lag ein schwarzes Knäuel. Es war Hinkebein. Das konnte ich jetzt nicht glauben. Wie sollte ich jetzt herauskommen. Schließlich wollte ich sie nicht verjagen. Ich beugte mich zu Hinkebein herab. Mit zitternder Hand suchte ich ihren Kopf. Ich wagte es kaum, sie zu berühren. Dann endlich, meine Hand berührte ihr Fell. Das konnte doch nicht wahr sein. Ihr Kopf blieb auf dem Boden liegen. Sie ließ sich von mir streicheln. Ich hatte es geschafft. Es war so leicht gewesen, das Herz von Hinkebein zu erobern. In ihrem Fell spürte ich den Staub und den Sand. Meine Hände fühlten sich rau und unangenehm an. Sie hatte dringend ein Bad nötig. Im Moment aber unwichtig.
Die Touristen, die in mein Büro kamen, hatten alle viel Mitleid mit meinem Hinkebein. Leider sahen die Besitzer der benachbarten Geschäfte das nicht so. Immer wieder versuchten sie, Hinkebein zu vertreiben. Es gab sehr heftige Auseinandersetzungen mit den Männern. Ohne mich einschüchtern zu lassen, setzte ich mich durch. Wenn es Hinkebein zu viel wurde, ging sie in mein Büro und legte sich unter den Schreibtisch.
Zum Abendessen bestellte ich mir ein Paket mit Reis, Nudeln und Gulasch. An diesem Tag war das Paket nicht nur für mich. Ich riss den Deckel des Pakets ab und teilte mein Essen mit meiner neuen Freundin. Die Besitzerin des Silberladens kam zu mir, schaute auf uns beide und schüttelte nur lachend den Kopf und ging wieder. Es war Hinkebein anzusehen, dass sie sich wohlfühlte. Ich wusste, dass sie ein Straßenhund war. Sie wollte auf der Straße leben. So dachte ich. Hatte schon mehrfach die Erfahrung gemacht. Als der Nachtwächter kam und ich schon langsam mein Geschäft schloss, fragte er mich: „Soll ich mich um Hinkebein heute Nacht kümmern?“
„Das würdest du machen?“, fragte ich ungläubig.
„Na klar doch. Für dich mache ich das.“
Er grinste mich an.
„Was willst du?“, fragte ich schon etwas gereizt.
„Ich habe eine Idee. Morgen werde ich früher kommen und Holz mitbringen. Du kümmerst dich jeden Tag um die Hunde. Was ist, wenn es Winter wird? Dann sind sie alle dem Regen ausgesetzt. Ich werde für sie alle eine große Hundehütte bauen. Was hälst du davon? Schließlich kannst du nicht alle Tiere mit nach Hause nehmen.“ Er sah mich mit verschmitzten Augen an.
Ich blickte ihn ungläubig an. Verzog meinen Mund.
„Das würdest du machen?“ Er war einer der wenigen Menschen hier, der die Tiere nicht schlug oder nach ihnen trat.
„Ja“, war die knappe Antwort.
Mit einem breiten Grinsen nickte ich ihm zu. Ich war mir sicher, dass er am nächsten Tag damit anfangen würde. Auf ihn konnte ich mich verlassen.
Ich war mir sicher, dass sich Hinkebein wie jede Nacht am Strand zur Ruhe legen würde. Ich strich ihr liebevoll über den Kopf, wünschte ihr eine gute Nacht, schloss meinen Laden ab und ging nach Hause. Der Wachmann der Wohnanlage grüßte mich und wünschte mir einen schönen Abend. Ich drehte gerade den Schlüssel in der Wohnungstür um, als ich mein Telefon drinnen klingeln hörte.
Ich sprang aus meinen Schlappen und nahm den Hörer ab. Es war der Wachmann.
„Was ist los?“, fragte ich schon leicht panisch. War etwas mit dem Reisebüro nicht in Ordnung? Hatte ich vergessen, das Licht auszuschalten? Hatte man ihn angerufen, dass ich wieder zurückgehen musste?
„Du …“, begann er stammelnd. „Kurz nach dir ist hier ein Hund angekommen. Er hat zwei verkrüppelte Beine. Ich habe sie schon zwei Mal weg gejagt. Doch sie kommt immer wieder. Du bist doch so ein Tierliebhaber. Könntest du mal nach dem Tier sehen?“
Ich konnte förmlich durch das Telefon hören, wie er grinste. Schon mehrfach hatte ich Straßenhunde mitgebracht, sie gebadet und dann wieder in die Freiheit entlassen. Jedes Mal erntete ich nur Kopfschütteln. Das war mir aber egal. Die Tiere dankten es mir.
„Warte. Ich komme gleich noch mal runter“, antwortete ich, wusste ich doch, wer da um Einlass bat.
Ohne Schuhe rannte ich zum Lift. Er war noch in meiner Etage. Im Hinausrennen griff ich den Schlüssel. Ich rannte bis zum Eingangstor. Was ich da sah, glaubte ich nicht. Da stand mein Hinkebein. Also doch. Sie sprang am Tor hoch, als sie mich sah. Sie war mir gefolgt und ich hatte es nicht gemerkt. Ich schloss das Gartentor auf und verbeugte mich.
„Hab ich’s mir doch gedacht. Ihr kennt euch“, lachte der Wachmann. Ich nickte und grinste dabei breit.
„Willkommen, meine Schöne. Darf ich dir ein schönes Nachtlager anbieten?“
Der Wachmann lachte ebenfalls. „So eine verrückte Deutsche habe ich noch nicht kennen gelernt“, sagte er. „Aber du musst ein unendlich großes und gutes Herz haben.“
Ich nickte ihm zu: „Alles Okay. Danke, dass du mir Bescheid gegeben hast. Übrigens, weißt du überhaupt, dass die Tiere die besseren Menschen sind?“
Er sah mich fragend an. Diesen Satz hatte er nicht richtig verstanden.
„Wie meinst du das?“
„Ganz einfach. Tiere belügen und betrügen dich nie. Wenn du ihnen Gutes tust, danken sie es dir ein Leben ein. Denk mal darüber nach.“ Mit diesen Worten nahm ich meine Hundedame und sie folgte mir bereitwillig bis zur Haustür. Seine verwunderten Blicke spürte ich noch im Rücken.
Hier angekommen, schien sie es sich jedoch anders überlegt zu haben. Ich schloss die Tür auf und sie setzte sich. Sie wollte einfach nicht mit ins Haus gehen. Ich fasste mir ein Herz und schnappte sie, klemmte sie mir unter den Arm. Mit zappelnden Beinen trug ich sie in den Hausflur und dann in den Lift. Hier fing sie an zu fiepen, weinte regelrecht. Sie hatte unsägliche Angst. Die Fahrt in den achten Stock schien eine Ewigkeit zu dauern. Ich redet ihr gut zu, versuchte das gewonnene Vertrauen zu nutzen. Immer noch hielt ich sie fest unter meinem Arm. Ich nestelte meinen Schlüssel heraus und öffnete die Tür. Nun setzte ich die verängstigte Hündin ab. Schnell ließ ich die Tür hinter mir ins Schloss fallen.
Nun standen wir beide im Flur. Keiner wagte den ersten Schritt. Doch die Neugier von Hinkebein war größer. Sie ging auf Entdeckertour. Erkundete die ganze Wohnung. Ich ließ sie gewähren und gönnte mir nach dem anstrengenden Tag erst einmal eine heiße und erfrischende Dusche. Als ich fertig war, ging ich ins Schlafzimmer, denn wie jeden Abend war ich hundemüde. Ich hatte es mir zur Gewohnheit gemacht, im Dunkeln ins Bett zu fallen. Mit einem Satz saß ich wieder. Da war bereits jemand, der mir meinen Platz streitig machte. Ich tastete nach dem Schalter der Tischlampe und was ich da sah, ließ mich so lachen, dass ich mir den Bauch halten musste.
Einer Prinzessin gleich hatte es sich Hinkebein gemütlich gemacht. Den Kopf genüsslich auf das Kopfkissen gelegt. Normalerweise hätte ich nichts dagegen einzuwenden gehabt, doch sie war noch nicht gebadet, hatte noch den ganzen Dreck in ihrem Fell. Da musste ich wohl oder übel einschreiten.
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