182 Übereinstimmungen und 142.557 potenzielle Treffer lautete das Endergebnis des Programms. Er rieb sich mit beiden Händen durchs Gesicht und bemerkte, dass er das Rasieren vergessen hatte. Was zum Teufel hatte er eigentlich über eine halbe Stunde lang in dieser Dusche gemacht? Egal, es gab nun Arbeit und zwar jede Menge.
Brugger stöpselte nun seinen PC wieder an den normalen Monitor an. Dieser Job erlaubte nicht die Bequemlichkeit eines Bettes. Hier war harte Arbeit für einen Wissenschaftler angesagt und diese erledigte sich einfach am besten an einem Schreibtisch.
Der Kapuzen-Bademantel ließ ihn von weitem eher wie einen alten Jedi-Meister statt wie einen Professor erscheinen. Nur die Plüsch-Tiger passten nicht zu Darth Brugger.
Wieso hatten eigentlich die von der dunklen Seite der Macht immer die coolen Namen?
Nun begann die mühsame Kleinstarbeit am Rechner. Dabei vergaß er alles um sich herum. Die Putzfrau, die am Nachmittag vorbeikam, fand ihn in Boxershorts und einem weißen Feinripp-Unterhemd vor, da er beim Grübeln den Vorgang des Anziehens abgebrochen hatte. Auch dauerte es einige Minuten, bevor er bemerkte, dass er etwas unpassend gekleidet war und sich dann dazu zwang, sich doch noch fertig anzuziehen. Die Putzfrau störte ihn dann aber doch so sehr, dass er ihr sagte, sie solle nur das Bad machen. Er bezahlte sie für die vollen vereinbarten zwei Stunden und musste ihr mehrfach versichern, dass alles in Ordnung war.
„Ja, am Montag wieder normal! Ich werde Sie dann auch nicht mit meiner Anwesenheit stören, dann können Sie putzen wie und was Sie wollen!“ Es klang etwas arrogant, war aber nicht so gemeint. Er mochte die Frau, die nun schon seit sieben Jahren bei ihm putzte, ihren eigenen Schlüssel hatte und vor der er manchmal sogar seine privaten Probleme ausgeschüttet hatte. Das hatte er aber jedes Mal mit einem Trinkgeld bedacht, schließlich war er der Ansicht, sich so den Weg zum Seelenklempner gespart zu haben.
Psychologie! Was heute alles Wissenschaft sein will!
Zurück am Schreibtisch hatte sein Rechner für ihn eine Meldung parat: „Darstellung nicht möglich! Reduzierung der Dimensionen empfohlen.“ Die Nachricht wurde von einem „Ausführen“-Feld begleitet. Brugger legte seine Stirn in Falten und rieb sich das Kinn mit einer Hand. Er hatte keine Ahnung, worauf dieses Mistding hinaus wollte und so fuhr er mit dem Mauszeiger eben über dieses „Ausführen“-Feld und klickte. Langsam erschienen Punkte auf dem Bildschirm, allerdings so langsam, dass klar war, dass hinter jedem Punkt einiges an Rechenarbeit steckte.
Nebenbei sah er ein paar der Protokolle durch; vielleicht gelang es ihm dort zu erkennen, warum eine Reduzierung der Dimensionen erforderlich war und verdammt nochmal, welche Dimensionen sollten denn da vernachlässigt werden? Dann sah er es Weiß auf Schwarz: „x=0; y=0; z=0“; also alle drei darstellbaren Dimensionen? Brugger minimierte das Fenster mit dem Protokoll und musste mitansehen, wie sein Rechner gerade ein dreidimensionales Bild erzeugte.
Aus einzelnen Punkten entstand eine perfekt geformte Schleife, die durch den Mittelpunkt der Anzeige verlief und dann auf der Gegenseite eine absolut symmetrische Schleife erzeugte. Dann kam die Linie wieder durch den Mittelpunkt, bog um ein paar Grad ab und bildete wieder eine Schleife von exakt der gleichen Größe und so lief es weiter und weiter. Wunderschöne präzise langgezogene Unendlichkeits-Zeichen, immer leicht nebeneinander versetzt, aber ein Schönheitspreis war hier nicht zu gewinnen. Dennoch erfreute die Ästhetik des Ergebnisses den Physiker.
Brugger sah nochmal auf das Protokoll. Nein, er hatte sich nicht geirrt: X, Y und Z waren auf null gesetzt. Wenn der Rechner nun eine dreidimensionale Darstellung anbot, dann war Achse X die Zeit, das war klar, aber was waren Y und Z? Theoretisiert wurde schon immer über unendlich viele Dimensionen, aber zu fassen hatte sie noch niemand bekommen.
Bis jetzt?
Brugger begann leicht zu grinsen, während sich die Schleifen weiter verdichteten. Die Freiheiten, die er dem Programm erlaubt hatte, zahlten sich aus. Obwohl er sonst durchaus etwas restriktiver arbeitete, war er heute Nacht wohl in der richtigen Laune gewesen.
Brugger überlegte laut: „Dimension fünf ist vielleicht der Versuch die Krümmung von Raum und Zeit darzustellen. Aber was ist Dimension sechs?“ Oder teilte das Programm Raum- und Zeitkrümmung nochmal in zwei unabhängige Darstellungs-Dimensionen?
Bei geschätzten knapp dreitausend Schleifen hörte das Zeichenprogramm auf. Brugger betätigte die Option „Automatisch vervollständigen“, und nach kurzem Knacksen flogen die Schleifen nur so über die Grafik, bis eine kompakte Kugel entstanden war.
Der Professor erschrak, war aber schlau genug, sich gleich auf den Weg zu seinem Medizinschrank zu machen. Er spürte, dass er Nitro brauchte, weil sein Herz unregelmäßig schlug. Kein Wunder bei dem, was er gerade gesehen hatte. Er legte sich eine Tablette unter die Zunge und blickte in den Spiegel. In diesem Moment hätte er schwören können, dass die Falten bereits tiefer geworden waren und dass das eine oder andere Haar sich weiß gefärbt hatte. Er sah einen Mann, der innerhalb von Stunden um drei bis vier Jahre gealtert war und das, obwohl er sich eigentlich hätte freuen sollen über die größte Entdeckung seit ... Ja, seit wann denn?
Das Objekt, die Darstellung der Berechnung hatte er gesehen. Was aber fehlte, war die Interpretation und diese wurde gerade in seinem Gehirn erstellt. Hatte Professor Magnussen etwa danach gesucht? Wie konnte er das, wenn ihm doch die anderen Ergebnisse gar nicht zur Verfügung standen, aus denen sich diese Unmenge an Volltreffern überhaupt ergeben hatte?
Nein, Magnussen war nur etwas aufgefallen; eine Unregelmäßigkeit in der Zusammensetzung der Polarluft vielleicht? Danach sah sein Versuchsansatz aus und ließ auf nichts anderes schließen. Und wenn man bedachte, dass der Norweger aber auch gar keinen Hinweis auf seine Absichten in den Dokumenten hinterlassen hatte, konnte man zu dem Schluss kommen, dass er nicht wollte, dass jemand anderes von seinen Vermutungen erfuhr.
Magnussen war also damals in der gleichen Situation, wie Brugger heute. Er wusste, dass er etwas entdeckt hatte, aber er konnte es nicht veröffentlichen, weil man ihn in der Luft zerrissen hätte, wäre er mit unvollständigen Daten vor die Kollegen getreten. Da die Uni sein Projekt beendet hatte, war auch klar, dass wohl keiner seiner Assistenten wusste, was er gesucht hatte.
Bruggers Computer interpretierte Magnussens Ergebnisse nur. Ein Darstellungsversuch der Krümmung der Zeit konnte nur bedeuten, dass die Proben in Magnussens Untersuchung eine zeitliche Diskrepanz aufwiesen; also, dass die später genommenen Proben „jünger“ waren als die frühen? Wissenschaftlicher Unfug, aber er musste dem nachgehen.
Die langsam rotierende Kugel auf dem Monitor stach ihm wieder ins Auge. Sie hatte etwas Drohendes, etwas Beunruhigendes, was hauptsächlich daran lag, dass sie durch ihre Kompaktheit die einzelnen Schleifen verdeckte oder vielleicht sogar verstecken wollte? Mein eigener kleiner Todes-Stern? Schnell drückte Brugger auf die Reverse-Taste und schon waren wieder nur die Schleifen zu sehen, die aus den wirklich vorhandenen 182 Treffern entstanden waren. Auch das waren schon reichlich viele für seinen Geschmack.
Er musste sich die Daten aus dem Päckchen, das Steffen zusammengestellt hatte, nochmal gründlich anschauen. Er vermied jegliche schicke Darstellungsweise und ließ sich nur langweilige Tabellen anzeigen. Jede Luftprobe war sauber chronologisch markiert, fast penibel im Fünf-Minuten-Takt ohne irgendeinen Hinweis auf Ungereimtheiten. Da gab es gar nichts zu finden, also stöberte er ein wenig in den chemischen Auflistungen herum.
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