Christian Schwetz
TRAANBECKS AUSNAHMEZUSTAND
WIR sind, also erzählen WIR.
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel Christian Schwetz TRAANBECKS AUSNAHMEZUSTAND WIR sind, also erzählen WIR. Dieses ebook wurde erstellt bei
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Epilog
Christian Schwetz – der Autor und sein Werk
Impressum neobooks
WIR sind, also erzählen WIR.
WIR wollen die Dinge ins rechte Licht rücken. Damit WIR über die Dinge sprechen, sie später lesen und uns erinnern können.
WIR sind das Kollektiv. WIR werden das Kollektiv bleiben, auch wenn alle Protagonisten unserer Erzählung tot sein werden.
Fjodor und Ruppert, Henk, Miriam, Sara, Paul und die anderen mögen vergehen. Aber WIR, das Kollektiv, WIR werden sein.
WIR werden lesen, was WIR geschrieben haben. WIR werden sein, was WIR sind, weil WIR erinnern, was gelesen wird.
WIR schreiben.
Henk war der Erste. Er hat es als Erster entdeckt. Henk saß vor dem Computer, schrieb einen Text und war müde. Damals waren sie alle müde. Eine müde Generation in einer müden Stadt.
Heute sind WIR stark, voller Energie, die WIR empfangen und senden. Wach. Lebendig.
Henks Kopf fühlt sich dumpf und schwer an, seine Augen brennen, es fällt ihm schwer, sich auf die Geschichte, die er schreiben will, zu konzentrieren.
Er erinnert sich an Tricks, die er in Esoterik-Kursen gelernt hat. Autogenes Training. Er starrt auf den Bildschirm. Starrt auf eines der Worte, das er geschrieben hat. Sein Blick und das Wort und der Bildschirm. Etwas von ihm wird in das Wort gezogen, während etwas in ihm an dem Wort zerrt. Etwas fließt, dick und zäh und langsam und neben der Zeit.
Henk starrt auf die Buchstaben. Die Buchstaben bestehen aus Lichtpunkten. Er starrt, und Licht, und zwischen den Punkten ist Raum, und im Raum ist Energie. Er nimmt den Raum ein und fließt in die Energie und die Energie nimmt ihn auf und saugt ihn auf. Etwas fließt aus seinen Armen, seinen Beinen, zerrt an jedem Muskel, jedem Gelenk. Buchstaben und das Weiß dazwischen. Lichtpunkte, Energiepunkte, Zeichen und ihre Bedeutung. Alles fließt, alles reißt und zerrt an ihm.
Henk ist zwischen den Bits und Bytes, ist Teil davon. Henk ist Teil, Teil einer großen Masse, die wächst und sinkt, um ihn, in ihm, in die Tiefe der Datenbänke.
Das war das erste Mal.
WIR wissen, wie viel Glück und Zufall im Spiel waren. WIR wissen, warum ihm der Ausnahme-Zustand zugefallen ist. WIR wissen es, aber WIR wollen uns erinnern. WIR sind die Summe unseres Bewusstseins. Das Sein ist die Summe der für wahr genommenen Erinnerung. WIR werden die Teile zusammenfügen, die damals noch getrennt waren. Und sich immer noch lösen können, wenn WIR sie nicht fixieren. Jetzt und immer wieder.
Henk sah die Formen, die uns so vertraut sind, zum ersten Mal. Das Umfeld, das uns Glück und Erfüllung ist, war für ihn neu.
So schön.
So frisch, so Glück, so Weite.
Dann Schrecken, Panik, Angst.
Auch die Weite hat Gut und Böse, auch im Zwischenraum ist Liebe und Hass. Und die Formen sind um Henk zusammengefallen, in diesem Raum, diesem Zustand, diesem ...
Angst, Angst, Angst.
Panik. Flucht.
Raus.
WIR wissen nicht, ob Menschen davor den Ausnahme-Zustand erreicht haben und in die Welt neben den Daten eingetreten sind.
Als Henk Teil von uns wurde, wurde seine Erfahrung Teil von uns. Wenn andere vor ihm die Ebene der Datenverschmelzung erlebt haben, ist davon nichts zu uns gelangt. Berichte über religiöse Ekstase klingen, als gäbe es Gemeinsamkeiten. WIR wissen nur, was Henk gefühlt hat, und was er anderen darüber erzählt hat.
Er hat erzählt, er habe den Computer abgewürgt. Er hätte das Zimmer verlassen und sich in seinem Bett verkrochen. Die Bilder, die Farben, die Formen seien als Erinnerung in seinem Kopf geblieben.
Henk hat das Bett für Stunden, die Wohnung für Tage nicht verlassen. Schwankend zwischen Angst und Glücksgefühl, sein bisheriges Leben in Frage stellend, und sein künftiges und diese Erfahrung. Er hat sich an seinem Arbeitsplatz krank gemeldet. Es ist eine Art von Krankheit, wenn Geist nicht zu Körper passt und Fähigkeit nicht zu Möglichkeit.
Fjodor ist Henk dann besuchen gekommen. Sie waren so etwas wie Freunde, wenn auch nicht gute Freunde. Sie waren kein WIR. WIR können es schwer nachvollziehen. Dieses Schweigen, dieses neben den Worten stehen. Wenn da zwei sind, die nicht Teil eines Ganzen sind.
WIR wollen erzählen, daher müssen WIR die Worte finden. WIR wissen, wer WIR sind. WIR kennen und verstehen die Welt.
Der Tisch, das Bett, das Schwein, der Hund. WIR wissen mehr von unseren Hunden als von unseren Betten. Und zugleich weniger, weil ein Hund mehr ist als ein Bett. Aber wie das war, als Fjodor und Henk sich gegenüber standen, in der Tür vor Henks Wohnung, können WIR nicht empfinden. Dieses „Fast ein Freund“, und doch nicht Teil von einem WIR.
„Komm rein“,
sagte Henk, und meinte: geh weg.
Und meinte: hilf mir,
und meinte: sei mein Freund,
und meinte: lass mich in Ruhe,
und wollte
und wollte nicht.
„Komm rein.“
Henk deutete auf das schwarze Sofa. Fjodor erinnerte sich an die Geschichte, die Henk ihm beim ersten Besuch über die bunt zusammengewürfelte Einrichtung erzählt hatte.
Henks Eltern hatten alle Möbel, mit denen sie nicht mehr zufrieden waren, an den Sohn weitergegeben. Sie hatten sich selbst neue gekauft und Henk die Überbleibsel als großzügige Unterstützung untergejubelt:
„Um mir den Trennungsschmerz abzumildern“, hatte Henk gesagt. „Damit ich in vertrauter Umgebung bleibe“.
Fjodor stieg über Schokoladepapiere, die ebenso auf dem Boden lagen wie ein halbleeres Päckchen Salzgebäck. Er hob ein angefangenes Chipssackerl vom Sofa und stellte es auf den Tisch zu einer offenen Orangensaftpackung.
„Wie bei mir“ sagte Fjodor und schmunzelte. Er wartete auf eine Reaktion. Henk sieht nicht gut aus, dachte er. Und dieses Chaos passt nicht zu ihm. Miriam hat vielleicht Recht, sich Sorgen zu machen.
Krankheiten waren Fjodor zuwider. Er wollte nichts mit Krankheit, Gebrechlichkeit, Vergänglichkeit zu tun haben. Aber er hatte Miriam versprochen nach Henk zu schauen.
„Was ist los?“, fragte er endlich.
„Nichts“.
Dann kann ich ja wieder gehen, dachte Fjodor. Henk sagte nichts, tat nichts, lümmelte nur lethargisch in seinem Sessel neben Fjodor.
Fjodor überlegte, wie er Miriam gegenüber rechtfertigen konnte, Henk nicht geholfen zu haben. Dass er Hilfe brauchte, war offensichtlich. Aber wieso von ihm? Er dachte an Anna, die ihm vor einigen Tagen vorgeworfen hatte, nicht beziehungsfähig zu sein. Weil er sich nicht auf Gespräche und Gefühle einlassen würde, weil ihn Menschen nicht interessieren würden, keine Freunde, keine Bekannten, sie nicht, nicht mal für sich selbst würde er sich interessieren.
„Du warst jetzt ein paar Tage daheim. Bei dir im Büro weiß niemand etwas. Das passt nicht zu dir.“
„Was weißt du schon von mir?“, erwiderte Henk.
Nichts, dachte Fjodor. Ich weiß nichts von dir, und ich will auch nichts wissen. Aber so was darf man ja nicht sagen. Und gut siehst du wirklich nicht aus.
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