Fast jede der Proben war in ihrer Zusammensetzung zu 99,99 Prozent identisch mit allen anderen. Nur einige wenige der Proben wichen um circa 0,2 Prozent in ihrer Zusammensetzung ab. Das war für Brugger schwierig zu analysieren, weil es nicht direkt in seinem Fachbereich lag, aber zumindest konnte er mit dem Computer so gut umgehen, dass er sich die Art und Menge der Moleküle anzeigen lassen konnte, die diese Abweichung verursachten.
Proteine, Lipide, Polysaccharide, interessanterweise DNA-Spuren, dazu noch Spuren organischer und anorganischer Verbindungen, Moleküle oder Ionen. Insgesamt gut dreißig Zeilen an Substanzen im Nanogramm-Bereich, die ihm den Kopf schwirren ließen. Und immer, wenn die Abweichungen kamen, war das Verhältnis dieser Substanzen zueinander gleich.
Zellspuren! Cytoplasma! Plötzlich erkannte er, was sich da präsentierte. Spuren von Zellflüssigkeit mussten das sein. Ein wenig Biologie war dann doch in seinem alten Schädel hängengeblieben. Was fehlte, war der Wasseranteil von über achtzig Prozent, der in menschlichen oder tierischen Zellen vorkam, aber das konnte die Messung nicht anzeigen, weil das Wasser in der Luftfeuchtigkeit untergehen musste und deshalb sowieso angezeigt wurde.
Die Jagdlust war plötzlich da. Endlich hatte er einen Ansatz. Er scrollte weiter, in der Erwartung, jedes Mal wieder die gleichen dreißig Zeilen zu sehen, doch plötzlich, bei etwa der Hälfte der Untersuchungsunterlagen, stand da nur noch ein Wert, eine zusammenfassende Bezeichnung für das Gemisch: Magnasse!
Brugger nickte. Ja, das war Magnussens gutes Recht, seine Entdeckung nach sich selbst zu benennen. Dass er es nicht Cytoplasma (oder besser dehydriertes Cytoplasma) nannte, konnte nur eines bedeuten: Es handelte sich nicht um eine menschliche, tierische oder pflanzliche Zellflüssigkeit!
War es eine synthetisch hergestellte Substanz? Oder war sie von außerirdischer Natur? Brugger hasste es, an Science Fiction denken zu müssen, aber nach allem, was er in den vergangenen Stunden gesehen hatte, war es sogar eine logische Erklärung, dass Magnussen die Spuren von zeitreisenden Aliens nachgewiesen haben könnte. Allerdings hatte er bis dato keine chronologischen Abweichungen gefunden, die den Zeitreise-Aspekt bestätigen würden.
Brugger hatte das ungute Gefühl, dass gerade diese Abweichungen bald auftauchen würden, weil er sie bisher nur übersehen hatte. Er blickte auf die Uhr. Es war kurz nach sechs am Abend und vielleicht gerade noch Zeit Steffen an der Uni zu erreichen.
Er zögerte kurz und beruhigte sich erst durch langes, tiefes Atmen. Er wollte nicht zu aufgeregt klingen, denn möglicherweise hatte er hier etwas entdeckt, was vielleicht niemals veröffentlicht werden konnte oder durfte.
Er wählte Steffens Nummer und nach nur zweimal klingeln war Steffen auch schon dran.
„Chef? Was gibt's?“ Brugger konnte förmlich heraushören, dass er ihn gerade noch erwischt hatte, bevor er ins Wochenende abmarschiert wäre.
„Nichts Wichtiges! Äh, sagt Ihnen der Begriff Magnasse was?“, gab er so beiläufig wie möglich von sich.
„Magnasse?“, fragte Steffen und schien kurz zu überlegen. „Ja, sicher, das Zeug mit der C-14-Methode. Habe ich den Anhang nicht dem Datenpaket angefügt?“
Bruggers Herz blieb fast stehen. Die C-14-Methode diente der Altersbestimmung von organischen Substanzen. Oh, mein Gott, dachte er, Magnussen hatte genau gewusst, was er da tat, genau gewusst, auf was für einer heißen Spur er sich befunden hatte. Deshalb die absolute Verschwiegenheit! Aber Steffen hatte ihm eine Frage gestellt und Brugger wusste nun nicht mal mehr, was er gefragt hatte? In ihm kam Panik auf.
„Chef? Sind Sie noch da?“, klang Steffen besorgt.
Jetzt musste Brugger improvisieren. „Äh ... ja ... Moment ... Ich hab' hier Kaffee verschüttet!“
Oh, Gott! Wann hatte er das letzte Mal bewusst gelogen? Gerade Steffen würde es seiner Stimme anmerken, dass hier etwas nicht stimmte. Doch er hatte Glück, dass Steffen wohl wirklich auf dem Sprung nach Hause war.
„Also, Chef, ich bin schon mit einem Bein aus dem Büro. Die Altersbestimmung der Magnasse ist in einer Unterdatei gespeichert, aber die Werte sind bereits mit der Hauptstudie verknüpft. Wenn Sie die Werte anschauen wollen, da ist ein Unterverzeichnis mit dem Namen C-14 . Die Werte sind nicht in der Mappe, weil das die einzigen Daten von Magnussen waren, die auf CD gebrannt waren. Die CD liegt irgendwo auf meinem Schreibtisch, falls Sie das Original brauchen. Ich muss nun wirklich los, wir fahren übers Wochenende mit den Kindern weg!“
Steffen war zu sehr abgelenkt, als dass er misstrauisch werden konnte. Wahrscheinlich war er länger an der Uni geblieben, als er seiner Frau versprochen hatte. Seine Kollegen tuschelten bereits, dass Steffen zu Hause nun wirklich nicht die Hosen anhatte. Für Brugger war dies ein Gottesgeschenk.
„Ja, los! Ich sagte doch, es ist nicht wichtig! Die Kinder gehen vor! Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende. Grüßen Sie Ihre Frau, bitte!“ Er hätte kein weiteres Wort mehr herausgebracht, so trocken war sein Mund geworden.
„Danke, Chef! Bis Montag!“, und schon war Steffen weg.
Brugger klickte den Ordner mit dem Namen „C-14“ an. Dort waren die Proben in zeitlicher Reihenfolge aufgelistet. Die Altersbestimmung schwankte zwischen Null und über fünfhundert Jahren, weder aufsteigend, noch absteigend, sondern kreuz und quer. Er kontrollierte die Werte von Probe eins bis Probe einhundertzweiundachtzig. Er zuckte zusammen. 182 Übereinstimmungen hatte die Analyse gefunden und es gab auch genau 182 Altersbestimmungen von Magnasseproben.
Jedes Mal, wenn Magnussens Apparatur am Nordpol diese seltsame Zellflüssigkeit nachgewiesen hatte, spielten weltweit die Messgeräte verrückt? Brugger schaffte es gerade noch zu seinem Bett. Dann geschah etwas, was weder er, noch irgendjemand, der ihn auch nur ansatzweise kannte, jemals für möglich gehalten hätte.
Brugger wurde ohnmächtig.
Dr. Emma Brugger hätte einer der zufriedensten Menschen auf dieser Erde sein können. Ihre Eltern waren immer für sie da, ohne zu klammern. Ihr IQ war überdurchschnittlich. Das Talent zur Medizin war ihr von der Mutter und das Interesse an Wissenschaft und Forschung vom Vater in die Wiege gelegt worden.
Wohlhabend waren sie auch, so dass sie sich nie Sorgen um Geld hatte machen müssen, und da sie einen bekannten Namen trug, lief es mit der Karriere sicher auch etwas schneller als sonst. Aber der Name allein war sicher nicht dafür verantwortlich, dass sie ihr Abitur bereits mit siebzehn machen konnte und den Doktor der Medizin mit vierundzwanzig.
Nur für Männer hatte sie überhaupt kein Händchen. Die Draufgänger ließ sie abblitzen und die netten Männer erschienen schnell durch ihre Vita eingeschüchtert. Trotz ihres guten Aussehens gehörte sie zu den Menschen, die nervös wurden, wenn sie wirklich an jemand interessiert waren. Dann hatte sie auch immer das Gefühl, sich selbst kleiner machen oder Fragen nach ihrem Beruf ausweichen zu müssen.
Wirklich Schmetterlinge im Bauch hatte sie in den letzten Jahren nur einmal gespürt, aber das war dann ausgerechnet bei einem Patienten. Da sie jegliche Liebeleien mit diesen aus professionellen Gründen von vorneherein ausschloss, konnte sie wahrscheinlich mit Erik wirklich gut und unbeschwert reden. Er war einfühlsam, witzig und intelligent. Klar, dass sie ausgerechnet DEN unterm Messer haben musste!
Warum klappte das mit den anderen Männern nicht? Warum waren gerade die Männer, die sie anbaggerten, die letzten Neandertaler? Und warum versaute sie es, wenn der Kerl in Ordnung zu sein schien? Es ging so weit, dass sie vor einiger Zeit sogar das Experiment gestartet hatte, Frauen zu daten. Sie spürte nicht das Verlangen nach einem anderen Frauenkörper, aber sie kam mit Frauen einfach menschlich besser zurecht. Wie hätte sonst auch das Zusammenleben mit ihrer Mutter funktionieren können?
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