„Kannst du das vielleicht mal lassen, Michael?!”, schnauzte ich ihn an. Ich weiß nicht, woher diese Wut plötzlich kam. War es wegen meinem Bruder und dessen groteskem Vorschlag? Oder war ich wütend auf Pater Michael und seine einsilbigen Antworten, die die Bezeichnung als solche nicht einmal verdient hatten? Oder war ich sogar auf mich selbst wütend, weil Alex mich daran erinnert hatte, wie schwach ich sein konnte und meine Aufgabe in Wahrheit zu viel für einen einzigen Menschen war? „Und kannst du nicht Wörter benutzen anstatt gutturale Laute von dir zu geben, Michael?”, warf ich ihm an den Kopf.
Der Arm, der das belegte Brot hochhielt, senkte sich, und der Padre schaute mich verdutzt an. „Nun, ich kann gut verstehen, dass er gegangen ist. Du hast ihm unmissverständlich klargemacht, was du von seinem Vorschlag hältst. Wozu sollte er noch hierbleiben?”, fragte er mich und zuckte mit den Schultern.
„Pfft!”, machte ich und starrte grimmig geradeaus. „Ist ja klar, dass die Kerle wieder zusammenhalten!”, grummelte ich vor mich hin. „Seinen Vorschlag ins „Jäger-Geschäft” einzusteigen, hältst du sicherlich auch für einen Geniestreich!”
„Ada, bitte,” flehte mich seine Stimme von der Seite an. Ich hörte das dumpfe Geräusch des Sandwichs, als es auf den Teller fallen gelassen wurde. Im nächsten Moment lagen Pater Michaels Hände auf meinen Wangen, und er drehte meinen Kopf zu sich herum, damit ich ihn ansah. Nur widerwillig blickte ich ihm in die schwarzen Augen. „Es gibt keine Seiten, für die man sein kann oder nicht. Ich finde lediglich, du hättest ihn anhören sollen. Er will dir doch nur helfen, Ada, und nicht schaden,” meinte er in einem sanften Ton.
„Quatsch mit Soße! Es interessiert ihn nicht wirklich! Und du irrst dich, Michael. Mit deiner Aussage hast du bewiesen, dass du auf Alex’ Seite stehst!”, entgegnete ich ihm entschieden und wand mich solange zwischen seinen Händen, bis er mich freigab. Ich hörte sein resigniertes Seufzen und sah, wie er fassungslos seinen dunklen Haarschopf schüttelte.
„Bitte, Ada, tu mir das nicht an!”, flehte er. „Du wolltest wissen, was ich denke, und ich habe es dir gesagt.”
„Ach, hör schon auf!”, murmelte ich und sah finster auf meine Bettdecke hinunter. Es war wirklich nicht nötig, dass er mich daran erinnerte! Ich hatte es herausgefordert, und nun musste ich mich mit der Antwort, die mir missfiel, abfinden. Fein! Trotzdem ärgerte es mich, dass der Padre für Alex Partei ergriffen hatte, auch wenn er es anders auslegte. Ich sah es nun einmal so, und damit basta! „Wenn es dich so brennend interessiert, was Alex zu sagen hat, kannst du ihn ja anrufen und ein bisschen nett mit ihm über Haken, Fische, Adas Dickkopf und ihr kaltes Herz plaudern!”, schlug ich ihm mit einem sarkastischen Unterton vor.
Pater Michaels Augen verengten sich. Er legte den Kopf schief und musterte mich eingehend. Dann meinte er völlig ernst: „Ja, vielleicht tue ich das sogar.”
Verwundert über seine Antwort glotzte ich ihn an und beobachtete, wie die Züge um seinen Mund herum zuckten, als er ein Lächeln zu unterdrücken versuchte. Da begriff ich, dass er mich testete, um zu sehen, wie ich darauf reagierte. Aber gleichzeitig war es auch ein Versuch, die Stimmung zu lockern. Aber wenn man mich und meine Reaktionen ins Lächerliche zog, war das die absolut falscheste Sache, die man tun konnte! Und was er konnte, konnte ich schon lange. Ich setzte also mein süßestes Lächeln auf und sagte: „Schön!”
„Schön,” wiederholte er meine Antwort.
„Schön, schön!”, meinte ich energischer.
„Schön, schön,” echote er.
Ich spürte, wie erneuter Unmut in mir aufstieg, und dass er mir das letzte Wort nicht überlassen wollte, ließ meinen Blutdruck nur noch weiter ansteigen! „Schön, schön, schön!” Dieses Mal hatte ich Pater Michael förmlich angeschrien, und zufrieden stellte ich fest, dass es ihm endlich die Sprache verschlug und er mich mit seinen dunklen Augen völlig perplex anstarrte.
Überzeugt davon, dass ich gewonnen hatte, nickte ich und gab ein selbstgefälliges „Mhh!“ von mir. Aber es war zu früh, um sich auf den Lorbeeren auszuruhen, wie ich wenige Sekunden später feststellen musste, als Pater Michael plötzlich lauthals lachte. Verblüfft schaute ich zu ihm. Er hatte den Kopf in den Nacken gelegt und bellte geradezu meine Zimmerdecke an. Ganz offensichtlich freute er sich über irgendetwas wie ein Kullerkeks, während ich die Welt nicht mehr verstand. Schließlich packten mich seine Hände, und er zog mich an seine Brust. Wenn ich dazu in der Lage gewesen wäre, hätte ich mich gegen ihn gewehrt. Doch leider konnte ich es nicht und lag stattdessen gegen ihn gelehnt da wie ein Sack Kartoffeln.
„Du bist einfach unglaublich, Ada,” sagte seine Stimme über mir.
„Freut mich, dass ich dich so amüsiere,” nuschelte ich, wobei ich mich anhörte, als hätte ich Schnupfen, da meine Nase in Pater Michaels Achselhöhle klemmte.
„Und ich finde nicht, dass du ein kaltes Herz hast. Du hast ein großes, warmes und liebevolles Herz, das voller Sorge um den Bruder ist,” meinte der Pater.
„Danke,” war meine knappe Antwort.
„Du bist nur ein bisschen stur,” fügte er dann hinzu, und an der Art, wie er es sagte, hörte ich heraus, dass er lächelte. Schließlich schob er mich ein Stück von sich und sah mir ins Gesicht. „Aber sogar deinen Dickkopf liebe ich,” flüsterte er und küsste mich sanft auf den Mund.
5. Nullachtfünfzehn-Jägerin
Mein Herz fing bei der Berührung seiner Lippen schneller an zu schlagen. Mir wurde heiß, und ein angenehmer Schauer lief mir über den Rücken. Alle Streitigkeiten waren vergessen, und ich konzentrierte mich voll und ganz auf ihn. Gerne hätte ich sein Gesicht mit den Händen berührt, aber meine Arme gehorchten mir nicht, als ich es versuchte. Ich gab einen frustrierten Seufzer von mir, und instinktiv schien Pater Michael zu wissen, was ich wollte. Oder aber er sehnte sich nach dem Gefühl meiner Hände auf sich ebenso sehr wie ich, denn er umschloss meine Handgelenke, hob langsam meine Arme und führte sie zu seinem Gesicht, bis sich meine Finger auf seine Haut legen konnten. Sobald er meine Wärme spüren konnte, gab er ein zufriedenes Seufzen von sich und vertiefte den Kuss noch.
Ich war froh, ihn endlich so spüren zu können, dennoch tat es mir in der Tiefe meines Herzens weh, als ich unter meinen Fingerspitzen die Nähte auf seiner Wange fühlte. Ich bemerkte, wie sie zuckte, und es tat mir umgehend leid, dass ich Pater Michael Schmerzen zugefügt hatte. Also nahm ich meine Hand von ihm. Kraftlos fiel sie auf seine Schulter, blieb dort liegen und stahl sich etwas von der Wärme, die von ihr ausging. Ich fühlte die Muskeln sich bei jedem seiner Atemzüge bewegen, die von Augenblick zu Augenblick schwerer wurden. Ich spitzte die Ohren und lauschte für eine Weile diesem Klang, bis ich mich auf ein anderes Geräusch konzentrierte, an dem ich Gefallen gefunden hatte: dem Schlagen seines Herzens. Ich richtete meine Aufmerksamkeit also darauf, doch so sehr ich mich auch anstrengte, es gelang mir nicht, es neben seinen tiefen Atemzügen herauszuhören. Zunächst war ich nur überrascht, aber dann machte es mir Angst, auf die Irritation folgte. Was war los mit mir? Wieso konnte ich plötzlich seinen Herzschlag nicht mehr hören? Seit dem Moment, in dem ich meine Super-Kräfte bemerkt hatte, hatte ich es doch klar und deutlich hören können!
Pater Michael schien zu merken, dass ich mit meinen Gedanken ganz woanders war anstatt bei unserem Kuss, und er löste sich von mir. „Was ist los? Was hast du? Geht es dir nicht gut?”, fragte er.
Als ich zu ihm aufblickte, sah ich, wie sehr er sich um mich sorgte. Ich schüttelte den Kopf und starrte auf den Kragen seines Hemdes. „Ich kann dein Herz nicht schlagen hören,” sagte ich traurig. „Ich kann es nicht mehr hören, Michael. Ich glaube, mein Super-Gehör ist verschwunden,” fügte ich hinzu und spürte, wie sich meine Kehle zuschnürte und ich kurz davor war, in Tränen auszubrechen, weil ich ahnte, dass das nicht das Einzige war, das sich verändert hatte. „Wenn mein Super-Gehör weg ist, sind wahrscheinlich auch alle anderen Super-Kräfte verschwunden,“ hauchte ich fassungslos und schaute mich völlig durcheinander in meinem Zimmer um. Am liebsten wäre ich sofort aufgesprungen und hätte gleich getestet, ob ich noch superstark und superschnell war. Aber das in Erfahrung zu bringen, würde noch dauern. Erst musste ich wieder Herr über meinen Körper werden.
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