Ich seufzte genervt und gab klein bei. „Schon gut! Grundgütiger! Du kannst ein ziemlich großer Angeber sein. Ich sehe meinen Fehler ein und gebe mich geschlagen, Pater Allwissend. Aber einen Versuch war es wert,” erwiderte ich.
Pater Michael lächelte und entgegnete mir: „Natürlich.” Aber es war offensichtlich, dass er zufrieden war und sich sehr darüber freute, dass er den Schlagabtausch gewonnen hatte. Wieder einmal. Doch nach einer Weile, in der wir uns schweigend gegenüber gestanden und er meine Vorderseite trocken gerieben hatte, fand er seine Sprache wieder und fragte: „Möchtest du wissen, was in Kapitel sechzehn im Buch Ezechiel geschrieben steht?”
Ich gab nur eines dieser Pater Michael typischen „Mhhs” von mir, die alles bedeuten konnten: Ja. Nein. Vielleicht. Lass mich in Ruhe! Aber es schreckte meinen Lehrer nicht ab. Er begann zu sprechen, und mit jedem Wort, das er sagte, lauschte ich aufmerksamer und verfiel freiwillig in das Schweigen, das er sich von mir gewünscht hatte. „Da kam ich an dir vorüber und sah dich in deinem eigenen Blut zappeln,“ sagte er und strich vorsichtig über die zwei Löcher an meinem Hals, die die Vampirlady dort hinterlassen hatte und die mich wohl noch eine ganze Weile an das erinnern würden, was geschehen war. „Und ich sagte zu dir, als du Blut verschmierst dalagst: Bleib am Leben! Wie eine Blume auf der Wiese ließ ich dich wachsen und du bist herangewachsen, bist groß geworden und herrlich aufgeblüht. Doch du warst nackt und bloß. Da kam ich an dir vorüber und sah dich, und siehe, deine Zeit war gekommen, die Zeit der Liebe. Ich breitete meinen Mantel über dich und bedeckte deine Nacktheit.” Ich erschrak, als er plötzlich seine Arme hob, das Handtuch durch die Luft wirbeln ließ und mich schließlich darin einwickelte. Mit großen Augen blickte ich zu ihm auf und wartete darauf, dass er fortfuhr. Pater Michael lächelte und nickte zufrieden. Er wusste, dass er mich mit diesen Versen gefesselt hatte. „Ich leistete dir den Eid und ging mit dir einen Bund ein, und du wurdest,” sagte er, lehnte sich zu mir hinunter und küsste mich zärtlich auf beide Wangen, „mein!” Seine Lippen legten sich auf meine. Die Berührung war nur kurz und sanft wie der Flügelschlag eines Schmetterlings.
In das Handtuch gehüllt hob er mich auf seine Arme und trug mich in mein Schlafzimmer. Sobald er den Raum betreten hatte, riskierte ich einen raschen Blick zur Zimmertür und stellte erleichtert fest, dass mein Bruder nicht mehr dort stand. Ich wusste nicht, wohin er gegangen war, aber offenbar hatte er es für klüger und anständiger befunden, Pater Michael und mich allein zu lassen. Vorsichtig wurde ich auf dem Bett abgesetzt und kam mir etwas verloren vor, als der Padre mich unerwartet allein ließ. Doch es war nicht für lange Zeit und auch nur, weil er mir etwas zum Anziehen holen wollte. Als er schließlich mit meinem pinkfarbenen Pyjama zurückkehrte, musste ich lächeln.
„Ich kleidete dich in bunte Gewänder;” hörte ich Pater Michaels Stimme sagen und brauchte einen Augenblick, um zu verstehen, dass er weiter die Bibel rezitierte. Dieser Satz passte so hervorragend zu meinem farbenfrohen Kleidungsstück, und es faszinierte mich, dass der Pater so mühelos einen Text aus der Heiligen Schrift wählen und wiedergeben konnte, der seine Taten so treffend beschrieb. Vor mir ging er auf die Knie, holte mit den Armen aus und legte mir geschickt das Oberteil des Pyjamas um. Er half mir dabei, in die Ärmel zu schlüpfen und schloss langsam, beinahe andächtig, die Knöpfe. „Ich hüllte dich in kostbare Gewänder,” fuhr er fort, und ich sah, wie er dabei lächelte, denn das „Gewand“, das er mir umgelegt hatte, war keineswegs kostbar, aber dafür bunt. „Ich legte dir prächtigen Schmuck an, legte dir Spangen an die Arme und eine Kette um den Hals,” sagte er, griff plötzlich unter den Stoff seines Pullis und zog den Rosenkranz seiner Mutter, der dort die ganze Zeit gelegen hatte, hervor. Er nahm ihn ab und hängte ihn mir um den Hals. Ich schüttelte verwirrt den Kopf. Er wollte ihn mir doch wohl nicht etwa schenken? Ich wollte ihn danach fragen, aber Pater Michael legte mir einen Finger auf die Lippen und verbannte mit einem einzigen liebevollen Kuss auf den Mund alle Gedanken aus meinem Kopf. Als er sich von mir löste, hielt ich meine Augen geschlossen und schwelgte noch für eine Weile in dem Gefühl seiner Lippen auf meinen. Erst als ich hörte, wie sich seine Schritte von mir entfernten, wurde ich aus meinen Träumereien geholt und lauschte den Geräuschen, die aus dem Badezimmer kamen. Was zum Henker suchte er dort? Die Antwort: meine Bürste. Außerdem entdeckte ich in seiner Hand noch ein Handtuch und einen Haargummi. Er dachte aber auch wirklich an alles, und offenbar war er noch nicht fertig damit, sich um mich zu kümmern.
Pater Michael lächelte, als er mein verblüfftes Gesicht sah. Er breitete neben mir das Handtuch aus, um sich mit seiner feuchten Kleidung daraufzusetzen, und drehte meinen Kopf in die richtige Position, damit er problemlos an meine Haare gelangen konnte. „Ohrringe hängte ich dir an die Ohren und setzte dir eine herrliche Krone auf,” sagte er in ruhigem Tonfall und streichelte sanft über meinen Kopf, was mir ein wohliges Seufzen entlockte. Ich mochte es, wenn man mich sanft am Kopf berührte. Bei dieser Art von Liebkosung konnte ich herrlich entspannen. Nur leider war auch dieser Moment viel zu schnell vorüber und Pater Michael mit seiner Aufgabe fertig. Mit geschickten Händen band er meine Haare zusammen und ließ den Zopf ein letztes Mal durch seine Finger gleiten. Unter mir spürte ich, wie sich die Matratze bewegte, als der Pater näher an mich heranrutschte und sich dicht an mich lehnte. Sein warmer Atem streifte über mein Ohr und den Hals, und als er mir zuflüsterte, durchfuhr mich ein angenehmer Schauer. „So wurdest du strahlend schön und wurdest sogar Königin.” Der Klang des letzten Wortes hallte noch in meinen Ohren nach, da spürte ich bereits seine Lippen an meinem Hals, den er mit unendlich vielen federleichten Küssen bedeckte, sorgsam darauf bedacht, nicht die Bisswunde der Vampirin zu berühren. Doch er gönnte es mir nicht, seine Zärtlichkeiten noch viel länger zu genießen und schob mich ohne jegliche Anstrengung auf dem Bett herum und zwang mich dazu, mich hinzulegen. „Du brauchst keine Angst zu haben,” sagte er und legte die Decke über mich. „Ich bleibe die ganze Zeit über bei dir.” Er lehnte sich zu mir hinunter, um mir einen Kuss auf die Stirn zu geben. Ich lächelte ihn an, aber als mein Blick zu der Wunde auf seiner Wange wanderte, verzog ich gequält das Gesicht. Tränen begannen in meinen Augen zu brennen, und ich schniefte. „Was ist, Ada? Was hast du?”, fragte Pater Michael und umfasste meine Wange mit seiner Hand. Beruhigend strich sein Daumen über die Haut.
„Die Verletzung…dein Gesicht…es tut mir so leid…ich wollte das nicht,” schluchzte ich.
Der Pater legte den Kopf schief und lächelte. Für einen Moment schien er über meine Worte nachzudenken, und schließlich beugte er sich zu mir hinunter und gab mir einen Kuss. Er lehnte seine Stirn an meine und sagte: „Es ist nicht deine Schuld, Ada. Du kannst nichts dafür, und es nicht so schlimm, wie es dir vielleicht erscheinen mag. Ich verspüre kaum Schmerzen. Es wird wieder heilen. Ich möchte nicht, dass du dich sorgst.”
„Aber…”, setzte ich an, wurde jedoch von seinen Lippen, die sich sanft auf meine legten, unterbrochen. Dieses Mal jedoch blieb er länger bei mir, und ich fragte mich, was diesen Augenblick so anders für ihn machte, dass er sich nicht sofort wieder von mir entfernte. Aber dann mischte sich ein salziger Geschmack in unseren Kuss und ich begriff, dass es die Tränen des Paters waren, die er so lange versucht hatte zurückzuhalten. Ich wollte mich von ihm lösen, aber es war zwecklos. Meine Bemühungen, mich zu befreien, veranlassten ihn nur dazu, mir seinen Mund noch fester aufzudrücken. Er tat mir nicht weh. In diesem Kuss lagen seine ganze Verzweiflung und Sehnsucht, sein tiefes Begehren und seine größten Ängste, seine aufrichtige Liebe und unendliche Erleichterung. Und erst als er mir all das mit seinen Lippen preisgegeben hatte, gab er mich frei und flüsterte dicht vor meinem Gesicht: „Du musst jetzt schlafen, Liebste. Ruh dich aus, und wenn du aufwachst, wird die Welt für dich anders aussehen.”
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