Seit meinem Rauswurf bei ›Crazy Hair‹ sind inzwischen gute zwei Wochen vergangen. In der ganzen Zeit habe ich nicht eine Schicht in der Bar ausgelassen und mir auch keinen Tag freigenommen. Ich brauche diese Abwechslung und Ablenkung einfach, die mir dank Tobi und den netten Gästen sehr leicht gemacht wird. Na ja, und dann ist da ja auch noch das Geld, das jeder eben zum Leben braucht. Ob ich weiterhin in der Bar arbeiten oder wieder als Friseurin arbeiten möchte, weiß ich derzeit noch nicht. Diese Gedanken habe ich bisher erfolgreich beiseitegeschoben. Die Einzige, deren Haare ich momentan dennoch schneide und färbe, ist Antje.
Antje kommt an diesem Abend mit einem Grinsen auf mich zu, welches mir meine Augenbrauen in die Höhe treibt. »Wieso schmunzelst du so, ist irgendwas im Busch?«, frage ich irritiert.
Sie zieht einen Zettel aus ihrer Jeanstasche und wedelt mir damit vor der Nase herum. »Ein mir wohl bekanntes Vögelchen hat mir gezwitschert, dass es ein wunderschönes, großes Zimmer in einer Wohnung zu vermieten hat. Im Übrigen ist diese besagte Wohnung der Hammer und nicht weit weg von hier. Na, was sagst du? Raus aus diesem kleinen Loch über der Bar und rein in eine tolle Wohnung mit einem netten Mitbewohner, den es obendrein gibt«, zwinkert sie mir zu.
Als sich meine Augen weiten, winkt Antje gleich ab. »Um Gottes willen, bei Karsten hast du überhaupt nichts zu befürchten.«
Meinen Gedankenblitz habe ich nicht mal ausgesprochen, da widerlegt sie ihn gleich. Es ist nicht mal, dass mich ein WG-Leben mit einem Mann stören würde, denn das würde es nicht. Doch nach der letzten offensiven Situation mit diesem selbstgefälligen Markus bin ich von Männern irgendwie geheilt. »Woher kennst du diesen Karsten?« Antje lächelt mich beruhigend an, »er ist seit Jahren ein sehr guter Freund von mir, mach dir keine Sorgen.«
Also heißt dies für mich, dass er lediglich an Schwänzen interessiert zu sein scheint. Also geht keine Gefahr von ihm aus. »Jetzt ruf diese Nummer an, macht was aus und schau dir die Wohnung und das Zimmer wenigstens einmal an!«, befiehlt sie und strahlt mich herausfordernd an.
Ich zucke mit meinen Schultern, schnappe mir den Zettel, grinse sie an und sage: »Danke.«
»Keine Sorge, ich möchte dich nicht loswerden, doch das Zimmer oben ist ja nichts für immer. Das ist kein Dauerzustand, so klein und beengt, wie das ist. Du kannst dich immer auf mich verlassen, du kannst es immer wieder beziehen, wenn etwas sein sollte - egal warum. Doch ich weiß genau, wenn du einmal bei ihm bist, wirst du nicht ›Nein sagen‹ können.«
Wieso irritiert mich ihr letzter Satz so sehr? , frage ich mich in Gedanken. Ich mache mir bestimmt wieder zu sehr einen Kopf. Sicher meint sie, dass mir diese Wohnung so gut gefallen wird, dass ich nicht werde ablehnen können. Da die Bar erst in zehn Minuten öffnet ziehe ich mein Handy aus meiner Hosentasche und wähle die Nummer. Nach dem dritten Klingeln meldet sich eine männliche Stimme: »Winkelmann, hallo?«
Seine Stimme klingt rau, leicht kratzig und fest. Sie ist sehr männlich und genau das beschert mir eine Gänsehaut. Ich muss mich räuspern, denn diese Stimme hat mich leicht aus dem Konzept gebracht. »Ja, hallo, hier spricht Annika Richter. Ich habe Ihre Nummer von Antje, sie meinte, dass Sie ein Zimmer vermieten würden, oder?«
Einen kurzen Moment ist es still in der Leitung, was mich etwas irritiert. Möchte er das Zimmer überhaupt vermieten? , schießt es mir durch den Kopf. »Hallo?«, frage ich zögerlich nach.
»Ja, ja natürlich vermiete ich ein Zimmer. Ich nehme an, Sie interessieren sich dafür?«
Welch' seltsame Frage, würde ich denn sonst anrufen? , denke ich, sage aber: »Ja, ich würde mir das Zimmer und die Wohnung sehr gern einmal ansehen.«
»Haben Sie morgen Vormittag gegen 10:00 Uhr Zeit?«, fragt die sexy Reibeisenstimme. »Ja, das passt mir gut, wo ist denn die Wohnung?«, möchte ich noch von ihm wissen.
»Kennen Sie die Richard-Wagner-Straße?« Bei dem Straßennamen staune ich nicht schlecht, denn natürlich weiß ich, wo diese ist. Vor drei Monaten bin ich auf der Suche nach einer Bleibe auf viele tolle Wohnungen gestoßen, die leider außerhalb meines Budgets, aber genau in dieser Straße lagen. Wir verabreden uns für den nächsten Vormittag und legen auf. Ich versuche, das Gespräch noch einmal Revue passieren zu lassen. Gott, wenn der Mann auch so aussieht, wie seine Stimme klingt, dann ist mir nicht mehr zu helfen. Heilige Scheiße , stelle ich gedanklich fest. Der Abend vergeht wie im Fluge, denn wir haben einiges in der Bar zu tun. Wir lachen viel mit unseren Gästen und demzufolge fällt auch unser Trinkgeld hoch aus. Meines habe ich bisher immer für Stoffkäufe ausgegeben. Nähen ist eine große Leidenschaft von mir. Meine selbst genähten Kleider, Tücher und Shirts trage ich mit Stolz. Zwei Reisetaschen und meine Nähmaschine sind von München mit nach Berlin gezogen. Seit meinem Umzug bin ich leider nicht mehr dazu gekommen, wieder etwas zu nähen. Doch vielleicht habe ich in meinem neuen Zimmer Platz und kann mir einen kleinen Nähtisch kaufen. Zum Ende der Schicht, als ich gerade dabei bin, die Tische abzuwischen, träume ich ein wenig vor mich hin. Ich male mir aus, wie Mister Reibeisenstimme und das besagte Zimmer wohl aussehen könnten. Stelle mir vor, wie es ist, in diesem gehobenen Wohnviertel zu leben. Um drei Uhr nachts liege ich endlich in meinem Bett und falle direkt in einen tiefen Schlaf, aus dem ich bereits wieder um halb acht morgens durch das Klingeln meines Weckers gerissen werde. Nachdem ich mich noch mal herumgedreht habe, quäle ich mich schließlich aus meinem schönen, kuscheligen Daunennest. Die Nacht war wirklich kurz. Bis ich es dann wirklich aus dem Bett geschafft habe, ist es schon kurz nach acht Uhr. Deshalb schlüpfe ich nur noch schnell in meine schwarze Jeans, ein graues Shirt und in eine dunkelgraue Strickjacke. Mein grauschwarzer Loop-Schal und meine Sneakers runden mein Outfit gekonnt ab. Ich schminke mich nur selten, denn ich habe einen tollen Teint, makellose Haut und große grüne Augen, die im Kontrast zu meinen lagen roten Haaren stehen. Mascara ist das Einzige, womit ich mich ein bisschen aufhübsche. Oft habe ich schon Komplimente für meine grünen Augen - die von extrem langen Wimpern umrandet werden - bekommen. Genau aus diesem Grund nehme ich mir kurz Zeit und setze sie in Szene. Wer weiß, vielleicht begegne ich ja heute noch meinem Traummann. Doch in erster Linie möchte ich einen guten Eindruck hinterlassen. Ich laufe die fünfzehn Minuten bis zur entsprechenden Adresse. Auf dem Weg dorthin hole ich mir einen Kaffee und genieße ihn. Als ich an dem Haus ankomme, erblicke ich neben dem Eingangstor einen kleinen Anbau. Davor schließt sich – etwas versetzt - ein kleiner Flachbau an. Prompt ist meine Neugier geweckt und ich bin gespannt, was mich in der Wohnung darin erwarten wird. Im Erdgeschoss scheint es einen Laden zu geben, da dort ein großes Schaufenster in die Hauswand eingelassen wurde. Über der Eingangstüre prangt ein großes Schild mit den Worten ›Helens Nähkiste‹.
Mein Nähliebhaberherz schlägt höher. Das wäre der absolute Wahnsinn , rattert es durch meine Gedanken. Ein Geschäft genau vor der Nase zu haben, in dem ich alles bekomme - sollte sich das mit dem Zimmer als gut herausstellen –, wäre geradezu perfekt. Ich drücke meine Nase an dem Schaufenster platt und kann einige Dinge im Ladeninneren ausmachen - Stoffe, Wolle, Nähzubehör und einen Änderungsservice. Ein kleines Glöckchen erklingt, als sich die Tür langsam öffnet. Eine Frau, die ich ungefähr auf Ende fünfzig schätze, schaut strahlend heraus. »Kindchen, komm doch rein, ich beiße auch nicht.« Das entlockt mir ein herzliches Lachen und ich antworte: »Das werde ich auch, nur habe ich jetzt einen Termin. Doch gleich danach komme ich«, verspreche ich der netten Frau.
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