Wie ferngesteuert laufe ich zu meinem Auto. Der schwarze 3er BMW ist alles, was ich noch von meiner Pflegemutter habe. Ich setze mich hinein, ziehe die Fahrertür zu und lasse meinen Kopf auf meine Hände fallen, die ich auf dem Lenkrad abgelegt habe. Mein Herz rast. Ich versuche meine Atmung zu verlangsamen und mich so zu beruhigen. Was war das denn für eine geschmacklose Situation? Das glaubt mir doch kein Mensch , schlussfolgere ich im Stillen.
Ich gehe in Gedanken noch einmal alles durch. Vor Wut laufen mir die Tränen. Plötzlich fällt mir siedend heiß ein, dass er mir nur eine Stunde Zeit gegeben hat, meine Sachen aus der WG zu holen. Panisch starte ich den Motor, denn ich möchte ihm nicht noch einmal begegnen. Während ich einen Blick in den Rückspiegel werfe, wische ich mir meine Augen sauber und fahre zu der Wohnung zurück, die ich eigentlich als mein zu Hause bezeichnen sollte.
Es ist niemand da, als ich die WG betrete. Ich laufe in mein Zimmer und packe meine Kleidung in meine zwei Taschen- mit mehr bin ich damals nicht hergekommen. Meine Nähmaschine steht abgedeckt auf dem Schreibtisch. Diese drei Dinge und mein Bettzeug schnappe ich mir und bin im Nullkommanichts wieder an meinem Auto. Den Schlüssel habe ich wie befohlen in den Briefkasten geschmissen. Ohne diesen Schlüssel fühle ich mich irgendwie sauberer und befreit. Der Gedanke daran, mich von ihm nehmen zu lassen, nur damit ich einen Platz zum Schlafen habe, ekelt mich an. So etwas Geschmackloses , den Gedanken beendet, bin ich auch schon wieder eine Erfahrung reicher, aber um eine Wohnung ärmer.
Ich schlage mit meinen Fäusten auf das Lenkrad ein und raste fast aus. Dieses scheinheilige Schwein hat mir in wenigen Minuten alles genommen. Was mach ich denn jetzt?, frage ich mich selbst. Ich hänge förmlich in der Luft, das ist so ein beschissenes Gefühl. Ich weiß nicht, wohin ich jetzt soll, möchte aus diesen Klamotten raus und einfach duschen. Danach eine Kleinigkeit essen und müde bin ich zudem auch noch. Jetzt wäre der perfekte Zeitpunkt, um zusammenzubrechen. Doch nicht einmal dafür habe ich die nötige Kraft. Ich fahre zum nächsten McDrive und gönne mir heute ausnahmsweise etwas richtig Ekelhaftes. So ekelhaft, wie ich mich gerade fühle. Ein Menü später sitze ich immer noch auf dem Parkplatz des Schnellrestaurants und bin keinen Deut schlauer.
Wohin? Wohin soll ich? Was mache ich jetzt nur, verdammter Mist? , frage ich mich erneut.
Da meine Kräfte langsam schwinden, kann ich nicht mal mehr richtig trinken und fange schon an, mich zu bekleckern. Dieser Tag oder viel mehr dieser Abend hat mich emotional ausgelaugt. Jedes Kleinkind kann aus einem Strohhalm trinken, nur ich nicht. Aber das passt hervorragend zu diesem verdammten Tag. Um meine Sauerei mit einem Taschentuch abzutupfen, taste ich die Taschen meiner Jeans ab, ergreife etwas und denke bereits, dass ich fündig geworden bin, doch dann halte ich kein Taschentuch in Händen, sondern Antjes Visitenkarte.
Ist das ein Wink des Schicksals? , geht es durch meinen Kopf.
Antje ist, wenn man es mal realistisch betrachtet, die Einzige, die ich hier in Berlin kenne und mal abgesehen von diesem Fickverein ›Crazy Hair‹. Entschlossen mache ich mich auf den Weg zu Antjes Bar ›Light‹, denn dank ihrer Visitenkarte kenne ich nun die richtige Adresse. Als ich an der Bar ankomme, parke ich mein Auto recht weit hinten auf dem Parkplatz. Für den Fall, dass ich diese Nacht im Auto schlafen muss, möchte ich nicht unbedingt, dass jeder daran vorbeigehen und mich sehen kann.
Ich sehe sicher voll fertig aus, doch irgendwie ist mir das gerade völlig egal. Ich brauche etwas Starkes zu trinken und eine Kippe. Außerdem möchte ich diesen ganzen Scheiß von vorhin einfach nur noch vergessen. Ich hoffe nur, dass Antje auch da ist. Als ich das ›Light‹ betrete, staune ich nicht schlecht. Mich erwartet eine modern eingerichtete, hippe Bar. Antje steht hinter der Bar und hält sich ihr Handy ans Ohr. Zum Glück ist die Musik zu dieser Uhrzeit noch recht leise, sonst würde sie ihren Gesprächspartner sicher nicht verstehen können.
Es ist kurz nach 19:30 Uhr.
Als Antje mich entdeckt, bekommt sie große Augen, runzelt gleichzeitig ihre Stirn und beginnt, mich eingehend zu mustern. Sie bittet mich, vor ihr auf einem Barhocker Platz zu nehmen und mich ein klein wenig zu gedulden. Ich folge ihrer Bitte und just in dem Moment wird mir bewusst, wie bescheuert und verworren die ganze Situation eigentlich ist. Antje ist ja nicht mal eine Freundin, sie war bloß meine Kundin. Was hat mich denn in ihre Bar und zu ihr gezogen? , stelle ich mir in Gedanken diese Frage. Ich muss ihr ja nicht erzählen, was vorgefallen ist. Irgendwie ist mir die ganze Sache ziemlich peinlich. Hätte ich vielleicht doch meine Beine breit machen sollen? In Gedanken knalle ich mir selbst eine dafür, dass ich überhaupt darüber nachdenke. Mir wird schon allein bei dem Gedanken daran schlecht. Wie billig sind diese Weiber eigentlich, von denen ich bisher glaubte, sie seien wie ich. Sie würden ihren Job lieben und am Abend zu ihren Liebsten – sofern sie welche hatten - nach Hause kehren.
Ich werde mir jetzt etwas Alkoholisches bestellen und versuchen, den ganzen Abend zu vergessen. Als Antje ihr Telefongespräch beendet hat, schaut sie mich prüfend an. Ab diesem Moment schrumpfe ich innerlich zusammen. »Ich kenn dich bisher nur als fröhliche und stets lächelnde junge Frau, die heute ihre Probezeit geschafft hat, und jetzt feiern wollen würde. Was ist passiert, dass du so fertig aussiehst und wie ein Häufchen Elend daherkommst?«, fragt sie, weitet neugierig ihre Augen und ist auf meine Antwort gespannt. Meine Nase kribbelt, was sie immer tut, bevor mir Tränen in die Augen steigen. Ich bleibe jetzt stark , spreche ich mir in Gedanken Mut zu und winke ab. »Ach, es war nur ein langer Tag.«
»Aha, bist du dir sicher?«, fragt sie mit schief gelegtem Kopf und zieht dabei eine Augenbraue in die Höhe. Ich versuche das Gespräch in eine andere Bahn zu lenken und frage: »Kannst du mir etwas Hartes empfehlen?«
»So schlimm?« Antje legt ihre Hände tröstend auf meine. Nach einigen Sekunden tropft die erste Träne auf das dunkle Holz und ich schaue beschämt nach unten. Antjes Daumen streicht beruhigend über meinen Handrücken, als sie sagt: »Komm, erzähl schon, Annika.«
»Ich bin arbeitslos«, jetzt ist es raus.
»Hä, wieso das denn? Das verstehe ich nicht. Ich dachte immer, Markus fände, dass du wunderbar in das Geschäft passt. Die Kunden sind doch begeistert von dir, mich eingeschlossen.«
Ich muss bei ihren Worten hart schlucken und entgegne ihr: »Ja, doch ich fand, dass sein elendes Würstchen nicht in meine Vagina passen würde. Infolgedessen musste ich meine Kündigung hinnehmen und bin noch dazu jetzt obdachlos.« Langsam hebe ich meinen Kopf und schaue in ihr verwirrtes Gesicht. »Du machst Scherze!«
»Das habe ich ihn auch gefragt, aber nachdem er mich bedrängt hatte, war mir dann nicht mehr zum Lachen zumute. Er würgte mir dann noch rein, dass ich meine Koffer packen und verschwinden solle. Antje, ich hatte die Wahl, ein- bis zweimal die Woche seinen Schwanz zu lutschen oder mich von ihm auf seinem Schreibtisch nehmen zu lassen. Oder aber ich sei arbeitslos. Ich hätte ihm am liebsten ins Gesicht gekotzt. Am Anfang dachte ich wirklich, dass gleich die versteckte Kamera um die Ecke kommen würde.«
Antje steht fassungslos da, dreht sich um und greift zur Whiskyflasche, die in einem Glasregal mit Spiegelrückwand steht. Sie gießt jeweils 4 cl in zwei Gläser und schiebt mir eines davon rüber. »Dieses Schwein, das gibt es doch nicht. Hat er sie noch alle? Du zeigst ihn doch an, oder?«, entrüstet sie sich und leert ihren Whisky in einem Zug. Ich schüttle schnell meinen Kopf und antworte: »Ach nee, lass mal. Er hat gedroht, dass er mich sonst wegen Ladendiebstahl anzeigen würde. Er hat mir schon demonstriert, dass er am längeren Hebel sitzt.«
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