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Nach dem Bericht über meine Bundeswehrzeit stellte der Arzt fast keine Zwischenfragen mehr. Er ließ mich plaudern und machte nur ab und an ein paar Notizen. Hatte er alle Hoffnung für mich aufgegeben? Dementsprechend ausführlich wurde ich. Ich wollte mich irgendwie entschuldigen, ihm nicht weiterhelfen zu können. Ich bekam dabei den Eindruck, ihn unterhielt meine Geschichte.
Während meiner anschließenden Unizeit gab es weiterhin keine Situationen, in denen Alkoholkonsum üblich oder gar zwingend war. Verbindungen und Burschenschaften kannte ich nur vom Hörensagen. Gerade in Gemeinschaft hasste ich den Gedanken berauscht zu sein. Meine wenigen Freunde machten mir nüchtern Spaß. Nur so konnte ich sie ungetrübt und pur erleben. Nur dann war ich für sie authentisch. Nur dann konnte man was unternehmen. Und mich interessierten nur Freunde, mit denen ich ein Interesse teilen konnte, wie z.B. im Schwimmverein oder dem gemeinsamen Musikspielen. Sollte sich das ändern, dann müsste ich mir neue Freunde suchen. Freunde oder Freundin schöntrinken war mir keine Alternative.
Dafür erlebte ich in ihrer Gesellschaft Dinge die viel mitreißender waren. Zum Beispiel Liebe. Etwa ein Jahr nach meinem Vordiplom hatte ich zum ersten Mal eine Freundin. Das schöne war, das alles ganz langsam ging. So wurde ich nicht von Gefühlen überrollt. Schritt für Schritt lernten wir uns besser kennen und jeden Schritt genoss ich, weil ich ihn erleben konnte, ohne dass Leidenschaft mir die Sinne raubte. Gerade weil diese Beziehung sich so bedächtig aber stetig entwickelte, war jede neue Kleinigkeit eine Sensation, die in ihren vielen unscheinbaren Details so durchdringend war. So wuchs stetig, sich manchmal auch etwas rückversichernd, was über Jahre hielt. Ich mochte diese schwärmerische Liebe, die rein und ungefährlich war. Sie konnte leidenschaftlich sein und blieb doch unverbindlich. Sie kannte weder Geschlechtskrankheiten noch ungewollte Schwangerschaften. Und für jeden Schmerz fand ich ein tröstendes Versmaß. Mit Carmen mochte ich an nichts anderes denken, als permanent ihre Nähe zu teilen. Selbst das Lernen für Klausuren erledigte ich meist nur noch in ihrer Gegenwart. Jede noch so nichtige Tätigkeit wurde der Hit, wenn es an ihrer Seite geschah. Bei soviel Liebe hatte Alkohol keinen Platz. Erst recht nicht, als die Libido doch noch zum Orgasmus führte.
Eine Menge Menschen haben mich in dieser Zeit geradezu begeistert und zwar in vielfältiger Hinsicht: fachlich, politisch, sportlich oder kulturell. Mein Mitbewohner Gerd konnte mich Nächte lang in Andacht versinken lassen, wenn er theoretische Physik verständlich erklärte. Seine kosmologischen Bilder, die er aus Worten zeichnete, waren herrlich. Ich liebte seine geradezu pathetischen Statements, dass wir aus der Erde und somit aus den Trümmern einer Supernova hervorgegangen sind. Dieser Gedanke vom Menschen als sublimiertem Sternenstaub war so wunderbar transzendal. Alkoholisiert hätte ich die mathematisch-physikalischen Grundlagen mit Ausflügen in die Quantenmechanik nie verstanden.
Eine zentrale Rolle spielte der Uni-Sport. Selbst Fallschirmspringen war möglich. Die Gelegenheit musste ich nutzen. Später konvertierte ich allerdings zu den Gleitschirmfliegern. Das lag mir mehr. Ich liebe dieses Gefühl von Harmonie mit den Elementen. Das kannte ich schon vom Segeln und Surfen. Gerade die ersten Male fühlte ich mich schon am Start mit dem Gleitschirm wie Otto Lilienthal, der als erster Mensch auf einem Hügel bei Berlin das Fliegen lernte. Das Gefühl ohne Motorkraft, sondern allein mit der eigenen Muskelkraft den Boden unter den Füßen zu verlieren und ins Fliegen überzugehen war großartig.
Besondere Highlights waren immer wieder Flüge in der Thermik oder im Aufwindband eines Berges. Hier hatte die Luft Balken und es trug mich immer höher, genauso wie die Bussarde, von denen gelegentlich einer vorbeischaute. Im Pustatal in Südtirol kam ein Greifvogel von unten in meinen Aufwindbart geflogen und passte seine Kreisrichtung der meinen an. Nach zwei Kreisen hatte er aber schon ein so starkes Steigen, dass er bereits deutlich über mir flog. Zwei weitere Minuten vergingen und der Vogel war bereits so hoch, dass ich ihn nicht mehr ausmachen konnte. Ich werde nie vergessen, dass er seine Drehrichtung der meinen angepasst hatte. Woher kannte er diese Flugregel? Auch wenn es nur ein Zufall war, ich empfand das Zusammentreffen als meine Absolution vor dem großen Thermikprofi.
Am Wichtigsten aber war Schwimmen. Jede Woche fuhr ich dreimal die im Winter besonders lange Strecke zum Schwimmbad im südlichen Zipfel der Stadt. Weder Regen noch Kälte konnten mich davon abhalten. Beim Schwimmen konnte ich mich mit Abstand am besten und gleichzeitig geradezu in mir ruhen. Beim Schwimmen hatte ich als Teenager meine größten Erfolge erlebt, und hier bot sich mir die Gelegenheit erneut, mich mit Gleichgesinnten für Wettkämpfe zu quälen.
Gerne erinnere ich mich dabei an eine Frau aus Wuppertal die in einem höheren Leistungskader trainierte und gerade im Sprint für mich unmöglich zu schlagen war. Herrlich auch eine ältere Doktorandin aus Spanien, die im Nationalkader geschwommen hatte und immer noch sehr schnell unterwegs war. In meinem zweiten Studienjahr waren wir dann sogar Ausrichter der deutschen Hochschulmeisterschaften. Leistungssport unter Alkohol ging nicht. Davon war ich überzeugt. Ich wollte es erst gar nicht probieren. So etwas zerstörte bestimmt meine Endorphinkicks (Endorphin ist ein Hormon, das vom Körper bei Hochleistung ausgeschüttet wird).
Neben dem Sport war Musik meine wichtigste kulturelle Aktivität. Es gab einen Jazzclub und für mich war es Ereignis genug, wenn beispielsweise ein Exbassist von Lionel Hampton oder einfach nur talentierte Studenten und ihre Dozenten der Musikhochschule aufspielten. Immer ging ich alleine zu den Gigs. Ich empfand das stressfreier. Schließlich kam ich nicht für ein gesellschaftliches Ereignis, sondern wegen des Musikgenusses. Im Schatten der Hochschule blühte eine vielfältige Szene mit den unterschiedlichsten Bands. Ich hätte gerne in der einen oder anderen Formation mitgespielt, aber ich war damals noch zu verhaltensgestört und scheu, um die nötigen Beziehungen aufzubauen. Selber spielte ich also nur zu Hause auf meinem Keyboard. Damit konnte ich jederzeit, wenn mir danach war, spielen. Nie mussten sich Nachbarn gestört fühlen, denn es ging auch leise. Und an langen, nasskalten, einsamen und melancholisch stimmenden Herbsttagen, wirkte das Instrument geradezu wie ein Antidepressivum. Dann spielte ich nach einem abgewandelten Beatles-Zitat . Tatsächlich ging dann jedes Mal die Sonne auf. Alkohol tötet die Musik selbst in einer Jazzkneipe. Schließlich wollte ich nicht nur zuhören, sondern neue Riffs und andere technische Kniffe lernen.
„Irgendwelche Alkoholerfahrungen in dieser Zeit?”
„Gelegentlich ein Bier. Das kam aber selten vor, denn meistens ging ich allein zu Jazzveranstaltungen. Andere alkoholische Getränke trank ich gar nicht. Einen leichten Rausch erlebte ich bei einem Umzug.“
Ich erzählte, dass ich einer Freundin zugesagt hatte, dass ich natürlich als Umzugshelfer mit anpacken würde. Sportlich durchtrainiert wie ich war, war ich von meinen Qualitäten als Möbelpacker sehr überzeugt. Als Belohnung für die Helfer gab es zwei Kästen Bier. Später sollten noch belegte Brötchen und Kaffee dazukommen. Wir mussten früh anfangen, weil der erste Transporter um 7:30 Uhr beladen abfahren musste. Ich packte kräftig mit an, so wie ich es angekündigt hatte. Als erstes nahm ich mir selbstverständlich die Waschmaschine vor, die ich alleine aus dem Kellerraum bis zur Treppe bugsierte. Nach etwa einer Stunde echter Maloche meldete sich mein Magen mit großem Hunger. Ich hatte morgens in Erwartung der belegten Brötchen meine Wohnung ohne Frühstück verlassen. Kein Wunder also, dass mein Magen nach harter Arbeit auf nüchternem Magen sein Recht einforderte. Nur, die belegten Brötchen waren noch unterwegs. Also fingen die ersten Helfer an von dem Kasten Bier zu trinken, der schon da stand. Naja dachte ich mir, Bier enthält doch reichlich sättigende Broteinheiten und nahm ein Bier, dass ich noch schwitzend mit einem befriedigenden Aah in wenigen Schlucken austrank. Das tat gut, meldete mein Magen sofort zurück. So nahm ich noch eine zweite Flasche und stürzte deren Inhalt etwas langsamer die Kehle hinunter. Danach ging es gleich weiter mit dem Schleppen von Bücherkisten, die unbedingt noch mit dem ersten Transport abfahren sollten. Nachdem ich zwei Kisten zum Auto gebracht hatte, griff meine Hand scheinbar unwillkürlich nach dem Treppengeländer. Ein paar Momente später erkannte ich, dass die Ursache für das schwankende Treppenhaus, in den beiden Bieren nach der Anstrengung auf nüchternem Magen liegen müsste. Kurze Zeit nachdem der erste Transporter abgefahren war, kamen tatsächlich Brötchen und Croissants und eine Kiste Mineralwasser. Ich genoss die Pause sehr und war froh, dass die bierbedingten Schwankungen schnell nachließen.
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