Michael Gruber kam an diesem Freitag etwas früher nach Hause, denn er wollte noch das Fußballspiel in Wingst ansehen. Um 18 Uhr spielte der TUB-SW, Turn und Bewegung Sportverein Wingst gegen den Fußballclub Bad Bederkesa, FCBB und dieses Spiel durfte Michael sich in keinem Fall entgehen lassen. Er war ein ganz begeisterter Anhänger seines Fußballvereines. Hinterher traf man sich zur Sportnachlese des Spieles, wie es hieß, in dem Sportlerheim seines Vereines. „Hallo Schatz, ich bin da und ich gehe zum Fußball. Wo ist Nina?“, rief Michael halb im Gehen in die Küche. Seine Frau rief zurück: „Viel Spaß Michael, Nina ist bei ihrer Freundin Birte, sie nahm ihren Schminkkasten mit und sie wollten für die Pantomimendarstellung noch üben.“ Seit einer geraumen Zeit war Nina von den Verwandlungen und Darstellungen von zeitgenössischen Figuren ganz begeistert und sie besorgte sich dazu mit ihrer Freundin Birte aus dem Theaterfundus in Bremerhaven alte Kleider und Perücken. Dazu schminkten sie sich ganz passable. Nina wollte auf den Sockel, der für sie die Welt bedeutete, diesmal waren es nicht die bekannten Theaterbretter, die schon so manchen späteren Künstler als Kind faszinierten. Ihr Vater zimmerte für sie in seiner Werkstatt diesen Sockel aus Holz, der ganz pfiffig mit Klappen und Scharnieren ausgestattet war. Ein wirklich gut gemachtes handwerklich einmaliges Stück. Sie wollte auf diesem Podest nicht nur stehen und sich langsam wie ein Roboter bewegen, sondern sie wollte singen und eigene Gedichte vor dem Publikum rezitieren. Sie hatte eine sehr schöne Gesangsstimme und auf Familienfesten konnte sie ihre Darbietungen schon mit Erfolg vorführen. „Nein“, sagte ihre Oma entzückt dabei, „diese Nina, ich sehe sie noch so klein mit einem hübschen Kleidchen, so schüchtern, wie sie war und jetzt trat sie schon fast im Fernsehen auf.“ Dabei zeigte ihre Oma die damalige Körpergröße von Nina an. „ Mutter“, sagte ihre Tochter streng, „jetzt übertreibst du aber.“
Michael Gruber nahm sein Portemonnaie, seine Schlüssel und sein Handy von der Kommode, danach war er schon aus dem Haus gegangen. Der Spotplatz war nicht weit entfernt und ein paar Jugendliche des Vereines aus Bad Bederkesa liefen schon leicht angesäuselt und singend in Richtung Fußballplatz.
Die Hundebesitzerin Luise Schmidt-Rein ging mit ihrer Hündin Debby, eine schöne Colliedame, am Balkseeufer spazieren. Debby war vorschriftsmäßig der vielen Enten wegen angeleint, als diese anschlug und in das struppige, sowie dornenreiche Gebüsch wollte. Da lag etwas an dem Wegesrand, was nicht gleich zu erkennen war. Man konnte aber um das Gebüsch herumgehen, um zur Gabelung des Weges zu kommen. Frau Schmidt- Rein sah schon von weitem das Bündel liegen. Unter einem historischen Kleid blickten ein Bein und ein verdrehter Arm hervor. Es war ein junges Mädchen. Frau Schmidt- Rein beugte sich darüber und sah das grell weiß geschminkte Gesicht. Unterhalb des Gürtels ragte ein langes Kabel aus dem Kostüm hervor und an diesem Kabel war ein Handy eingesteckt. Die Augen des Mädchens waren wie von einem Schreck weit geöffnet. Da, wo sich der Mund befand, war durch das Atmen der Sand leicht weggepustet worden. Jetzt bewegte sich nichts mehr. Die Hündin von ihr hatte ihre Sitzhaltung angenommen und sie winselte leise vor sich hin. Luise Schmidt- Rein sah in die offenen Augen des jungen Mädchens und sie nahm das Handy in ihre Hand. Mit einer Buchstabenmaschine war auf blauem Plastik ein Name eingestanzt und der lautete: Türen und Luken GmbH, Gruber, Wingst. Dieser Plastikstreifen klebte auf dem Handy. Luise Schmidt – Rein betrachtete wieder die offenen Augen. Der Blick dieses jungen Mädchens richtete sich in eine imaginäre, entrückte Weite. Dieser Blick war nicht mehr von dieser Welt. Luise Schmidt- Rein ahnte es, das junge Ding war tot. Sie hielt immer noch das Handy des jungen Mädchens in der Hand und drückte die letzte gespeicherte Nummer und ließ es läuten. Dabei dachte sie nicht daran, mögliche Spuren auf dem Handy zu verwischen.
Michael Gruber saß nach dem Fußballspiel mit seinen Freunden in gemütlicher Runde in der Vereinsgaststätte. Zwar hatte Bad Bederkesa verdient mit zwei Toren Unterschied gewonnen, doch es war ein ordentliches und kämpferisches Spiel seiner Mannschaft. Darauf konnte man doch auch stolz sein. Er bestellte noch eine Runde frisch gezapftes Bier und für jeden seiner Freunde ein eiskaltes Körnchen, denn auf einem Bein konnte man bekanntermaßen nicht stehen, als sein Handy läutete. Michael klappte sein Handy auf und meldete sich. Im Telefongespräch erstarrte er plötzlich am Tresen zur Salzsäule. Erst fiel sein Handy am Barhocker herunter und danach brach Michael Gruber zusammen. Er fiel mit dem Oberkörper wie vom Blitz getroffen auf den Tresen. Einige halbvolle Biergläser fielen klirrend um. Der Wirt rief noch, hey, so schlecht kann mein Bier aber wirklich nicht sein, da rutschte Michael Gruber auch schon von dem Tresen herunter und lag seitlich verdreht auf dem Kneipenboden in der Bierlache.
Die Polizei aus Cuxhaven rückte mit dem kleinen Zirkus an, wie es der Leiter Hans Uckermann immer zu sagen pflegte. Sie mussten mit ihrer umfangreichen Ausrüstung bis zur Unglücksstelle am Balkssee gehen, wo Nina Gruber lag. Nina musste auf einem Baumstumpf als festen Sockelersatz zum Üben gestanden haben, als sie, aus welchen Gründen auch immer, von diesem auf den Waldweg stürzte. Äußere Verletzungen waren an ihr nicht sichtbar. Es sah schon gespenstisch aus, wie ein so junges Mädel in dem alten Brokatkleid, weiß geschminkt, sowie verdreht an diesem stillen Ort lag. Es waren keine Autospuren sichtbar, ein Hinweis auf ein Gewaltverbrechen war nicht zu erkennen. Der diensthabende Arzt konnte so keine Angaben über die tote Nina machen und Hans Uckermann telefonierte von seinem Fahrzeug aus mit dem zuständigen leitenden Staatsanwalt Möller von der Staatsanwaltschaft Cuxhaven. Dieser hatte auch von den anderen mysteriösen Pantomimen Vorfällen in Nienburg und Verden gehört. Er sagte dem Polizeibeamten Uckermann, dass die Leiche von ihm vorerst beschlagnahmt wurde und er würde wieder von ihm hören. „Das ist eine Anordnung von mir“, sagte der Staatsanwalt scharf zu Hans Uckermann am Telefon. Der Staatsanwalt hatte nicht das allerbeste Verhältnis zur örtlichen Schutzpolizei von Cuxhaven. Er wurde einmal als junger Anwärter der Staatsanwaltschaft von der Cuxhavener Polizei aus dem Überlandbus der Linie 55 nach Stade zur Überprüfung seiner Personalien mit auf die Wache genommen. Bei einer gemeinsamen Fahrscheinüberprüfung des Kontrolldienstes der Cuxhavener Verkehrsbetriebe mit der Polizei aus Cuxhaven hatte er seine Monatsfahrkarte in einer anderen Jacke zuhause vergessen. Obwohl er seine Heimatadresse und seinen Arbeitgeber, die Staatsanwaltschaft Cuxhaven nannte, musste er mitkommen. Solche Jüngelchen wie dich kennen wir, sagte damals der Polizeibeamte und steckte ihn in den Streifenwagen. Das war aber noch nicht genug, der Polizist setzte sich während der Fahrt bis zur Wache auch noch im Fond neben ihn hin. Um eine Flucht zu verhindern, meinte der Polizist während der Fahrt und blickte ihn grimmig von der Seite an. Das Ganze klärte sich in der Wache auf, nachdem ein anderer Kollege ein Telefongespräch mit dem leitenden Oberstaatsanwalt in Cuxhaven führte. Es gab aber kein Wort der Entschuldigung. Der Polizist von dem Rücksitz im Streifenwagen sagte nur süffisant, Sie können gehen Herr Staatsanwalt, aber in Zukunft haben Sie bitte vorschriftsmäßig Ihre Monatskarte dabei. Dieses Schlüsselerlebnis mussten nun stellvertretend viele Polizeibeamte im Gerichtssaal ausbaden, wenn sie als Zeugen von dem Staatsanwalt Möller vernommen wurden.
Hans Uckermann kannte natürlich die Abneigung des Staatsanwaltes gegen ihn und seine Leute. Hans Uckermann schimpfte laut über den Staatsanwalt. Er stand hier in der Walachei und der Möller am Schreibtisch hatte es gut, der ahnungslose Robenträger. Der Staatsanwalt zog sich den ganzen Unmut zu, denn das Mädel war hier einfach im Wald an einer Krankheit gestorben, glaubte Hans Uckermann zu wissen. Der Notarzt fuhr mit Blaulicht an dem Fahrzeug von Hans Uckermann langsam vorbei und sagte bei geöffneter Scheibe der Beifahrerseite: „Wir haben einen weiteren Notfall in der Sportlerkneipe hier in Wingst, hier ist ja richtig was los.“ Dabei fuhr der Arzt die Scheibe im Notarztwagen hoch und das Martinshorn setzte infernalisch ein.
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