Friedo Naujoks nahm seine Pfeifentasche, öffnete das Fenster und stopfte sich seine Lieblingspfeife mit einem guten schottischen Tabak, den er das erste Mal rauchte. „So ein Hornochse“, sagte Friedo undeutlich, denn er hatte bereits seine Pfeife in den Mund gesteckt. Seine Sekretärin bekam das Gespräch durch die offene Tür mit und sie kannte ihren Chef schon viele Jahre. Als sie in sein Büro kam, sagte sie: „Früher wären Sie geplatzt und hätten ihn lautbrüllend in die Schranken verwiesen, heute machen Sie es richtig gut, wenn Sie normal reden. So können Sie ihn auch in die Schranken verweisen, auch wenn Sie kurz vor dem Platzen waren.“ Sie lachte laut und stellte ihm eine heiße Tasse Tee mit zwei Keksen hin und legte eine Mappe daneben. „Danke“, sagte er: „Ich meine, so ganz leise war ich nicht. Dabei hat sich mein Knopf am Hemdkragen vor Schreck verabschiedet. Ich brauche bitte die Zeitungsberichte von der neuen Pantomimengeschichte in Wingst.“ „Ist in der Mappe“, sagte sie fröhlich und verließ lächelnd den Raum. Friedo zog an seiner Pfeife, las die Zeitungsberichte durch und wählte aus seinem Dienstregister die Telefonnummer seines Kollegen, den Oberstaatsanwalt in Cuxhaven an. Sie besprachen die Zuständigkeiten ab. Als Ergebnis dieses Telefongespräches bekam Friedo Naujoks eine weitere Leiche zur Obduktion nach Hannover geliefert. Er zog das Verfahren aus dem Cuxhavener Bereich aufgrund dieser Absprache an sich. Die Verfügung würde sein Büro schicken und Friedo Naujoks informierte seine Sekretärin, die alles per Fax sofort erledigen sollte. Friedo stand wieder an seinem Lieblingsfenster, als er Stimmen im Vorzimmer hörte. Seine Sekretärin steckte den Kopf durch die Tür und sagte: „Der Polizeichef ist da, soll ich ihn zu Ihnen lassen?“ Friedo setzte sich, blies seine Wangen auf, als wollte er mit einer imaginären Trompete zum Angriff tröten. Er ließ schließlich die Luft ab und nickte seiner Sekretärin zu. Etwas zögerlich kam ein blasser Polizeichef wie ein Häufchen Elend durch die Tür, klopfte am Türrahmen an und sagte: „Darf man?“ „Wen der wohl mit man meinte, ist er doch selber“, dachte Friedo und sagte: „ Immer rein in die gute Stube.“ Sein Besucher lächelte unsicher und legte ein Paket guten dänischen Tabak auf den Tisch, als er sagte: „Ich möchte mich für mein unbeherrschtes Verhalten höflich entschuldigen und mit Ihnen sozusagen die Friedenspfeife rauchen.“ Dabei deutete er auf den mitgebrachten Tabak hin. „Sie als überzeugter Nichtraucher, das ist für Sie ja ein doppelter Gang nach Kanossa“, erwiderte Friedo sichtlich erstaunt. Er führte weiter aus. „ Erledigt und Schwamm drüber, damit Sie aber für die Zukunft klar sehen, ich bestimme die Musik, denn mein Vorsitz für die Sonderkommission ist von dem Ministerium abgesegnet worden.“ Sein Besucher nickte. Damit war alles in Butter und sie unterhielten sich über die ungeklärten Pantomimenfälle. Juristen können schnell auf den Punkt mit dem Blick für das Wesentliche übergehen, die Sache musste grundsätzlich, wie sie richtig bemerkten, immer zielführend sein sowie bleiben. Als der Besucher fort war, blickte die Sekretärin schon im Mantel durch die Tür in das Büro von Friedo hinein. Sie grinste breit mitwissend. Als sie sich für den Feierabend verabschiedete, sagte sie kurz: „Die Cuxhavener und die Gerichtsmedizin wissen Bescheid, alle Verfügungen sind unterwegs.“ Sie unterzeichnete immer fröhlich selber die Verfügungen, auch wenn sie die Unterschrift des Oberstaatsanwaltes haben sollten. Es war aber alles, sagen wir einmal, fast alles mit ihrem Vorgesetzten Naujoks so abgesprochen worden. Wichtige Alleingänge machte sie nie und das war richtig so. Insofern konnte sich Friedo auf die gute Seele in seinem Büro blind verlassen. Er wünschte ihr einen schönen Feierabend und vertiefte sich in eine dicke Prozessakte für den nächsten Schlachttag vor dem Landgericht in Verden. Es ging um mehrere Morde angeblich im Affekt. Diese Taten soll ein angesehener Landwirt mit einer Axt verübt haben. Friedo gefiel das allzu glatte Geständnis dieses angeblichen Täters nicht. Der hieß in der Presse auch der Beilmörder von Aller und Weser, weil seine Opfer dort von ihm verscharrt, beziehungsweise versenkt wurden.
Bei den Brunckhorst war die Trauer mit Macht eingekehrt, es herrschte im schönen sommerlichen Garten unter den Bäumen eine greifbare Unfassbarkeit. Michael und Monika Gruber hatten es zuhause nicht mehr ausgehalten und sie waren der Verzweiflung nahe. Monika rief bei Mechthild Brunckhorst an und sie fragte mit tränenerstickter Stimme, ob sie beide für eine kurze Weile zu ihnen nach Worpswede kommen durften. Sie hielten es beide in ihrem Haus in Wingst nicht mehr aus. Mechthild stimmte natürlich zu und sie hatte sofort einen Kursus in ihrem Atelier verlassen. Der nicht zu verstehende Tod aus unbekannter Ursache ihrer Tochter zerrte bis zum Kulminationspunkt an dem Gerüst, was man landläufig als gute Ehe bezeichnete. Monika Gruber machte ihrem Mann starke Vorwürfe, die schon heftig waren. Die Vorwürfe bezogen sich auf länger zurückliegende Vorfälle. Monika wusste selber nicht, warum sie ihren Mann derartig mit diesen Vorhaltungen anging, denn diese hatten mit der aktuellen Situation nach Meinung von Michael Gruber nichts zu tun. Es war der Punkt erreicht, der in solchen Situationen immer vorkam. Es kamen die Fragen, die in der immer wiederführenden Gleichmäßigkeit ohne eine Chance auf eine klärende Antwort das Gehirn im wahrsten Sinne des Wortes der nächsten Angehörigen bis zum beginnenden Wahnsinn zermarterten. Was haben wir falsch gemacht, haben wir Hinweise zur möglichen Krankheit von ihr übersehen, warfen wir kein Auge auf ihren Umgang, hatte sie heimlich einen Freund, hatte sie Ärger in der Schule oder im Fischereibetrieb? Monika ahnte wohl bei aller Kritik an ihrem Mann, dass sie nicht zu weit gehen durfte. Unbedachte Worte in einer Mischung aus Wut und Trauer ausgesprochen, bohren sich wie Pfeile mit einer Langzeitsprengung mit Gift in die Köpfe des Anderen hinein. Das Gemisch an diesem Pfeil würde über eine ganze Zeit dosiert in den betroffenen Menschen abgegeben. Wenn man als Betroffener nicht willensstark genug war, könnte das Gift obsiegen und die Ehe weit nach der Beerdigung des geliebten Kindes seine fatale Wirkung vollbracht haben. Dann half nur noch die Trennung des Ehepaares. Sie mussten dringend mit anderen Leuten über ihre Verzweiflung sprechen, die auch notfalls als Lebensschiedsrichter einschreiten konnten. Hier in Worpswede bei den Brunckhorst waren sie gut aufgehoben. Mechthild war ja vor ihrer jetzigen Tätigkeit seinerzeit als leitende Polizeirätin im Lagezentrum in Hannover tätig. Theo war lange genug als zweiter Polizeipräsident von Rotenburg an der Wümme und Zeven verantwortlich. Diese beiden aus Worpswede saßen zwar in ihrer wunderschönen Umgebung in ihrem Garten unter Bäumen, doch das Leben kannten sie aus ihrem Polizeidienst mit allen grausamen sowie schönen Facetten her. Die Eheleute Gruber berichteten jetzt einigermaßen gefasst von ihrer Tochter.
Nina verdiente sich im nahegelegenen Rostrumersiel in der Fischfabrik Claasen ihr Taschengeld, obwohl die Eltern sehr vermögend waren, wollte sie ihr Geld für einen neuen Roller und für ihr Studium an der Schauspielschule in Hamburg schon zum Teil selber zusammen bekommen. Das fanden ihre Eltern auch immer gut. Was war, wenn so ein Fischkopp, wie Michael die Leute in der Fabrik immer nannte, sich in Nina verliebt hatte und ihr heimlich nachstellte? Denn aus verschmähter Liebe war schon einiges im Leben zu Bruch gegangen. Das würde sie mir sagen, meinte Monika. Auch sprachen sie mit ihrem Hausarzt, ob Nina vielleicht heimlich dort war und eine ihnen unbekannte Krankheit hatte. Der Arzt konnte sie aber beruhigen. Dann kam die Idee, seine Frau sagte: „Wir haben doch durch die Fenstereinbauten mit den Brunckhorst einen ganz netten Kontakt und der Theo war ja der zweite Polizeipräsident von Rotenburg gewesen und der kann uns doch mit seinen Verbindungen und Erfahrungen sicher helfen, bevor wir hier langsam ganz verrückt werden und unsere Ehe darüber noch zerbricht, vor lauter Vorwürfen, die wir uns jetzt schon machen.“ Michael zeigte mit dem Finger auf sie und sagte: „Toll, das machen wir sofort, ich kann ohnehin keinen klaren Gedanken fassen.“ Die Brunckhorst hatten Zeit und sie kannten die kleine Notiz aus der Zeitung. Es war aber dort von einer unbekannten plötzlichen Krankheit einer jungen Frau die Rede. „ Wo die das von der Zeitung nur her hatten“, dachten auch die Gruber, als sie diese Notiz lasen.
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