In Fenrirs Augen kam die Wut zum Vorschein, sein Solidenzorn , der bei vielen gefürchtet war. Mantroserker, wie sie auch genannt wurden, hatten etwa die tausendfache Stärke ihrer Vettern, der Berserker, welche selbst schon als wahre Teufelskerle auf dem Schlachtfeld galten. Doch im Gegensatz zu ihren schwächeren Verwandten waren Mantroserker sogar dazu in der Lage, Dimensionstore zu vernichten und die Welten, die sich dahinter verbargen, vollkommen zu verwüsten, wenn der Aufschlagwinkel ihrer massigen Fäuste genügend abgestimmt war. Niemand mit Verstand wagte es normalerweise, einen Soliden anzugreifen, weil alle ihre Rache fürchteten. Und Fenrir ließ sich den Angriff dieses Todesboten keinesfalls bieten. Mit einem Satz stand er auf den Beinen, und ohne ein weiteres Wort zu verlieren, wurde Ri in hohem Bogen durch die Luft geschleudert. Doch sogleich war Gya zur Stelle. Sein gut zehn Meter langer, rot schimmernder Körper schlängelte sich die Felsen hoch und hatte innerhalb von Sekunden den starken Kämpfer bis zur Kehle fest umklammert. Die glibbrigen Augen beugten sich wie Antennen nach links und nach rechts, um ihre Beute genauer betrachten zu können. Eine eklig verzerrte Stimme erklang.
"Bild dir ja nicht zu viel auf deine Kraft ein, Bursche! Wir sind doppelt so stark wie du, also gib lieber auf!''
Fenrir aber grinste nur. "Und mir den tollsten Kampf seit langem entgehen lassen?''
Gya, der selbst unheimlich viel von sich hielt, überschätzte sich maßlos. Und hätte er schon damals Fenrirs Kraft am eigenen Leib erleben dürfen, dann wäre er nun nicht so vorlaut gewesen. Damals war es nur Gleipnirs Titanaxt gewesen, die ihm leidliche Wunden zugefügt hatte. Zwischen Ri und dem Soliden hatte es seinerzeit ein Unentschieden gegeben, weil beide gleich stark waren. So waren die Todesboten schließlich abgezogen und hatten sich eine Revanche geschworen. Jetzt, hier auf dem Berg, wurde ihm eine Eigenschaft der Soliden zum Verhängnis: Aus den Tätowierungen trat ein Sekret aus, welches die Hautoberfläche dermaßen gleitfähig machte, dass Fenrir seinen Gegner mühelos am Kopf packen und ebenfalls in den Nebel schleudern konnte.
"He da unten, ich schicke dir gleich noch ein wenig Futter!'' Der Steinwal brummte freudig erregt; Dutzende von Respen hatten ihm schon als Vorspeise gedient. Derweil war Ri wiedergekehrt, an seinem Rücken versteckten sich entfaltbare Kondorschwingen. In einem Tiefflug ließ er seine Geierkrallen auf den Kopf des Feindes niederfahren und verursachte ein paar böse Schrammen, bevor seine Elefantenstampfer von den harten Fäusten ergriffen wurden und der gesamte Koloss eine Reise in die Kluft machte, wo das Riesenmaul des Wals schon ungeduldig wartete. Gerade, als Gya mit seinen riesenhaften, ebenfalls entfaltbaren Libellenflügeln angeflogen kam und die Giftstacheln nach vorne bog, um sie dem Soliden direkt in die Brust zu rammen, ertönte aus der Tiefe ein gellender, langgezogener Schrei. Kurz darauf stand Ri erneut vor Fenrir, das Maul und seine Fäuste blutverschmiert.
"Den Wal werden wir uns in aller Ruhe schmecken lassen, wenn du hinüber bist! Ist gutes Fleisch!''
Er lachte. Die beiden Brüder sahen sich grinsend an und machten einen Frontalangriff. Während Ri andauernd versuchte, den drei Köpfe kleineren Fenrir nach links zu drängen, wartete dort schon sein Bruder Gya, um die Stacheln gut platzieren zu können. Letztendlich gelang es dem Riesen, ihren Widersacher in die Mangel zu nehmen. Da Fenrir noch von dem Sekret verschmiert war, klebte er unglücklicherweise perfekt an dem dichten Fell des Gorillakörpers, und Gya kam näher. Die spitzen Nadeln drangen tief in das Fleisch und ließen ihren tödlichen Saft genüsslich austreten, während den beiden Brüdern schon das Wasser im Maul zusammenlief. Eine halbe Stunde nach Fenrirs Ableben würde das Gift sich verflüchtigt haben, und der Kadaver wäre wieder genießbar. Der Solide merkte bereits, wie sich seine Atemzüge verlangsamten und seine Glieder taub wurden. Von fern meinte er noch ein Tier zu hören, das über den Bergkamm zu ihnen lief, aber dann wurde es auch schon Nacht um ihn.
Als er wieder erwachte, fühlte sich sein gesamter Körper immer noch sehr taub an; es tat weh, wenn er schluckte. Seine Augen brannten und sein Geruchssinn war betäubt. Das Zimmer, in dem er lag, war wohl kaum ein Teil der Villa; er erinnerte sich. Die Villa hatte er selbst vollständig zerstört. Doch wo waren Ri und Gya? Und warum war er noch immer am Leben? Fenrir sah sich um.
Die Wände waren weiß gestrichen, ebenso die Decke. Er versuchte den Kopf zu heben, was auch sehr weh tat, aber es ging. Der Raum war nicht gerade groß. Neben seinem schmalen Metallbett stand ein Stuhl, auf der anderen Seite des Zimmers, direkt neben der Tür, befand sich ein Waschbecken mit einem Spiegel darüber. An dem Bett selbst stand ein ausnehmender Schrank. Es war still. Wie spät mochte es sein? Wodurch wurde der Raum eigentlich erhellt? Nirgends sah er eine Fackel, Kerze oder elektrisches Licht. Immer noch Stille. Fenrir probierte aufzustehen. Zu seinem Erstaunen gelang es ihm. Jeder einzelne Schritt vermittelte pure Taubheit, weshalb sein Körper ständig nieder sackte, aber bis zur Tür hatte er wieder langsam Gefühl in den Zehenspitzen. Er öffnete die Tür. Draußen war ein langer, weißer Gang nach links und das gleiche Bild, wenn er nach rechts sah. Keine weitere Tür zu sehen, keine Leute, nicht einer. Fenrir schloss die Tür wieder. Dann ging er zum Schrank. Mit knarrenden Scharnieren ließen sich die Türen öffnen, verbargen aber nichts weiter als die Kleidung des Soliden. In seinem Oberteil prangten noch die Einstichlöcher von Gyas Stacheln. Er sah an sich runter, trug nur ein Nachthemd.
"Warum habe ich mich nicht gegen den Griff dieser Bestie gewehrt?'' fragte er sich selbst.
Leise schloss er die Schranktüren und sah beiläufig durch den Raum. Sein Blick blieb an der rechten Wand stehen. Hatte da nicht jemand ein paar Sätze geschrieben, mitten auf die Wand? Fenrir trat näher heran. Leise las er die Worte, die dort standen, Buchstabe für Buchstabe, Zeile für Zeile. Jemand hatte sie mit grüner Farbe dort hin gekritzelt; es mutete wie die Schrift eines Kindes an.
Weit noch ist die Wahrheit,denn ich vermochte sie nicht zu finden.Sieh nach rechts, wer du auch sein magst, und finde die Wahrheit.Tu es nicht für mich, Fremder. Tu es für sie.
Fenrir konnte kaum anders, er sah nach rechts und erschrak. Da hing der Spiegel über dem Waschbecken, doch zeigte er nicht sein Spiegelbild. Es war seltsam verzerrt und schien sich rasend schnell auf der Stelle zu bewegen. Mit jedem Schritt, den Fenrir auf den Spiegel zu machte, bewegte sich das grausige Gebilde im Spiegel hastiger, wilder und immer verzerrter. Als er schließlich direkt davor stand, hörte das Zittern mit einem Mal schlagartig auf. Es war ein schreckliches Bild, das ihn dort angrinste, mit bitterbösen und vollkommen schiefen Augen. Er war es, Fenrir. Aber nicht Fenrir, der gutmütige Freigeist, der sich nach dem großen Abenteuer sehnte und dem Freundschaft über alles ging. Es war Fenrir, der Mantroserker, der Solide. Es war sein Erscheinungsbild, wenn der Solidenzorn längst überschritten war und Fenrir vollkommen in seinen Blutrausch geriet. Es war eine hässliche Eigenart seines Volkes, die er nicht ausstehen konnte, obwohl sie schon gegen viele Feinde geholfen hatte. Dieses Grauen seines Ichs fing nun auch noch an, mit ihm zu sprechen, und seine Stimme war unerträglich, wie eine Gabel auf Porzellan.
"Na, mein Freund? Zuviel gejagt? Zu oft gekämpft? Gemordet? Abgeschlachtet? Blut vergossen? Das kann alles ein Ende haben. Wenn du bereit bist, alles zu riskieren!''
Dann ertönte ein grauenvolles Lachen. Und während das Spiegelbild lachte, verwandelte es sich in eine ganz andere Erscheinung, die Fenrir nicht begriff. Krauses, greises Haar besaß der Mann im Spiegel. Seine Haut war durch und durch gebräunt, als hätte er zu lange in der Sonne gelegen, ohne einen Sonnenbrand zu bekommen. Seine Augen waren tiefgründig, nein, abgründig. Er rieb sich die Hände und wiederholte mit einer vertrauten Stimme die letzten Worte des anderen Spiegelbildes.
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