Sie weinte immer weiter an seinem Halse, aber schon leiser. »Schick ihn doch weg, Karl!« bat sie noch einmal. »Tu mir den einzigsten Jefallen!«
Ehe Karl Siebrecht diesen neuen Angriff abwehren konnte, klopfte es kräftig an die Tür, und Kallis Stimme rief: »Da ist ein Herr, der Rieke Busch sprechen möchte!«
Mit einem Ruck machte sie sich von seinem Halse los. Mit weit aufgerissenen Augen, geisterbleich, sah sie den Freund an. »Jetzt kommt es, Karl!« flüsterte sie. »Jetzt kommt det Unglück, ich spür et!« Sie bückte sich zu der Waschschüssel und spülte sich das Gesicht ab. »Na, denn man los, Karl! Du hast mir wackeln jesehen, aber det sollen die nich! Immer Forsche in die Brust, wenn't ooch schwerfällt! Denn komm, Karl, wollen mal hören, wat der Hagedorn will.« Sie hatte es ganz richtig erraten: in der Küche stand Herr Hagedorn, und neben ihm ein junger Mann ... »Morjen, Herr Hagedorn«, sagte Rieke. »Det is aber noch nich die Zeit for die nächste Rate. Die is erst Donnerstag!«
»Die Rate geht mich nichts mehr an«, sagte Herr Hagedorn. »Ich will die Maschine holen!«
»Auf wat hin denn?« fragte Rieke noch ganz sanft. »Wat ha ick denn vabrochen, det Se mir die Maschine wegholen wollen?«
»Ich habe die Maschine an eine Frau Busch verkauft ...«
»Mutta ist in't Krankenhaus. Wenn Se wat mit Mutta'n besprechen wollen, müssen Se warten, bis se wieder hier is, Herr Hagedorn.«
»Deine Mutter ist seit Jahren tot, ich habe mich erkundigt«, sagte Herr Hagedorn, und es war nun nichts mehr mit »Sie« und »Frollein«. »So was ist Betrug.«
»Se haben Ihr Jeld jekriegt, jenau, wie wenn't von Mutta'n käme – stimmt det oder stimmt det nich, Herr Hagedorn?«
»Ich schließe keine Verträge mit Kindern, das ist gesetzlich verboten. Sie haben mich auch betrogen, junger Mann, Sie sind gar nicht der Bruder von dem Mädchen! Das ist eine Urkundenfälschung, das wissen Sie sehr gut. Seien Sie froh, wenn ich Sie nicht ins Zuchthaus bringe. Ich hole meine Maschine wieder.«
»Se haben Ihr Jeld bekommen, Herr Hagedorn«, sagte Rieke noch einmal, aber nur schwach.
»Der Vertrag ist ungültig. Ich nehme mir die Maschine wieder.«
»Halt!« rief Karl Siebrecht. »Sie haben immer gewußt, daß es gar keine Frau Busch gab! Das ist jetzt bloß ein Kniff von Ihnen!«
»So eine Frechheit! Ich soll gewußt haben, daß die Frau Busch nicht lebt –? Seh ich aus wie ein Mann, der sein Geld aus dem Fenster wirft? Mache ich Geschäfte mit Kindern? Ich verlange meine Maschine! – Fritz, faß mal die Maschine mit an!«
»Ihr faßt die Maschine nicht an, oder –« rief Karl Siebrecht und stellte sich drohend neben sie. Vor ihr stand schon bleich, aber entschlossen Rieke Busch. Voller Bedeutung streifte Kalli Flau die Ärmel seines Sweaters hoch.
»Ach, ihr wollt nicht?« fragte Herr Hagedorn. »Prügeln werde ich mich nicht mit euch! Fritz, hol den Herrn Wachtmeister vom nächsten Revier. Der kann dich dann gleich mitnehmen, Junge, wegen Urkundenfälschung! Und deine Freundin auch!«
»Sie werden es sich überlegen, Herr Hagedorn«, sagte Karl Siebrecht kalt.
Sein Gehirn arbeitete fieberhaft. Es mußte ein Mittel geben, diesen Mann vom Äußersten zurückzuhalten.
»Sie würden auch reinfallen. Man wird uns glauben, wer weiß, wie bekannt Sie schon vor Gericht sind, wie oft Sie schon solche Geschichten gehabt haben. Und wir werden beweisen, daß die Rieke vor Ihren Augen unterschrieben hat. Wir werden die Tinte von der Unterschrift untersuchen lassen.« Er sah den Mann an.
»Ach, die Tinte! Was du dir ausdenkst!« Aber er schien nicht mehr so sicher.
»Fragt sich, wem der Richter mehr glaubt. Seien Sie vernünftig, Herr Hagedorn, nehmen Sie das Restgeld.«
»Ich verliere bei dem Geschäft! All die Zeit, die ich versäumt habe, und jetzt wieder das Abholen, das kostet doch alles mein Geld!«
»Wie hoch ist der Rest? Hundertdreißig Mark, nicht wahr, Rieke?« – Rieke nickte. – »Ich will Ihnen was sagen, Herr Hagedorn: ich gebe Ihnen mein Sparbuch – das lautet auf zweihundert Mark, und Sie geben mir dafür den Vertrag zurück und bestätigen schriftlich, daß die Maschine uns gehört.«
Rieke rief: »Karle, det tuste nich! Hundertdreißig Mark, mehr nich!«
»Wir haben eine Dummheit gemacht, Rieke, dafür müssen wir jetzt bezahlen! Es ist Lehrgeld, du kannst sicher sein, ich bezahle es nur einmal – still jetzt, Rieke! – Wie ist es, Herr Hagedorn: ja oder nein?«
»Also her mit den zweihundert. Der Mensch macht mich kaputt!« Und Herr Hagedorn sank auf den Küchenstuhl und trocknete sich sein Gesicht ab.
»Das Sparbuch, Rieke!«
»Karle!« sagte sie flehend. »Es ist doch dein Jeld! Wie kommst du dazu?! For meine Maschine, for mir!«
»Das Sparbuch –« wiederholte er nur.
»Ich würde das Aas verdreschen und die Treppe runterschmeißen!« sagte Kalli Flau und betrachtete seine Arme. »So ein feiger Hund, wenn der erst fühlt, es gibt Senge, der reißt aus.«
»Laß man, Kalli!« sagte Karl Siebrecht. »Dies mach ich, wie ich will.«
Rieke war vor dem Küchenschrank hingekniet und hatte einen Stoß Wäsche herausgenommen. Sie griff in den Schrank, tastete, aber ihre Hand kam leer zurück. Sie stutzte, dann fing sie an, die Wäsche auseinanderzulegen, Laken um Laken, Handtuch um Handtuch. Alle sahen ihr schweigend zu. Zwischen dem Stoß Wäsche lag nichts. Rieke nahm sehr schnell den Stoß Wäsche daneben heraus, es waren Arbeitshemden des alten Busch, Unterhosen. Sie griff in den Schrank, die Hand kam wiederum leer zurück. Immer schneller legte sie Hemden und Hosen auseinander. Alle schwiegen, alle sahen ihr zu. Und wieder lag nichts zwischen der Wäsche. Nun war nur noch ein kleines Häufchen im Schrank: Riekes und Tildas Wäsche. Sie nahm sie eilends heraus. Ihre Hände zitterten so, daß sie die Stücke nicht mehr ordentlich auseinanderlegen konnte, sie wühlte in ihnen.
Der junge Mensch sagte: »Paß auf, Vater, die haben gar kein Sparbuch. Alles fauler Zauber.« Herr Hagedorn auf seinem Küchenstuhl seufzte schwer.
Rieke stand jetzt vor dem Schrank, sehr bleich, die Hände gegen die Brust gepreßt. Ihre Kinderstirn lag in Falten. »Rieke –« sagte Karl Siebrecht sanft.
»Ach –« sagte Rieke. Sie drehte sich rasch um und ging aus der Küche in die Stube. Die Tür klappte scharf, dann hörten sie drüben Rumoren und Poltern. Dann Stille. Dann einen hellen, klagenden Schrei.
»Hierbleiben!« sagte Karl Siebrecht und ging rasch in die Stube, deren Tür er hinter sich zuzog.
Rieke stand am Fenster. Ihr Gesicht sah erbärmlich aus, in ihren hellen Augen war ein fassungsloser, angstvoller Ausdruck, als sei sie ein Hund, der sich vor Schlägen fürchtet. Sie hielt das Sparbuch aufgeschlagen in den Händen. »Karle«, flüsterte sie. »Ach, mein lieber Karle ...«
Er warf einen Blick in das Buch. Was er in der letzten Minute geahnt und gefürchtet hatte, war Wahrheit geworden: nur Auszahlungen standen auf der Seite. Unwillkürlich warf er einen Blick auf die Schlusssumme. »43 Mark« stand da. Gott sei Dank, dachte er. Es ist nicht alles fort.
Sie hatte angstvoll in seinem Gesicht zu lesen versucht. »Karle!« flüsterte sie. »Wat mach ick nur? Vata hat dein janzet Jeld vasoffen! Und ick hab jesagt, bei mir is dein Jeld sicher! Schlag mir, Karle, ick bin der Dussel jewesen, und dir habe ick jeschumpfen – schlag mir tüchtig in't Jesichte!«
»Tochter«, sagte der alte Busch. »Tochter ...«
Karl Siebrecht sah erst jetzt, daß der Maurer aus seinem Rausch erwacht war. Er lag da, das Kinn in seine Hand gestützt, ein weinerliches Grinsen auf dem Gesicht. »Det macht nischt! Det mach ick jrade! Dafor komm ick dir uff, Tochta! Morjen jeh ick uff 'n Bau, ick jeh gleich jetzt, wenn de willst!«
»Vata! Vata!« rief Rieke. »Wat haste bloß anjerichtet?! Du hast mir unjlücklich jemacht, du hast mir in Schande jestürzt ...«
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