»Und du hast keine Angst –?«
»Det haste schon mal jefragt, det weeßte doch? Jestern abend! Nee, mehrstens habe ick keene Angst! Und nu bin ick janz vergnügt, ick gloobe immer, du bringst mir Jlück, Karl.«
»Hoffentlich, Rieke, du kannst es brauchen.«
»Und nu paß uff, Karl! Jetzt zitterst de nach Hause! Red nischt, morgen früh um sieben trittste hier wieda an mit Vatas Werkzeug. Ick jeh von hier direkt uff de Baustelle. Willste det tun, Karl?«
»Ja, natürlich. Aber willst du hier wirklich allein bleiben, die ganze Nacht, Rieke? Wenn der Wächter dich nun rausschmeißt?«
»Er schmeißt mir schon nicht raus, Karl! Der kann froh sind, wenn ick ihn nich raussetze! Und, nich wa, Karl, heute nacht schläfste mal bei uns, nich bei de Brommen. Es ist wegen Tilda. Und denn setzte ihr, ehe du abhaust, Milch auf. Brot is ooch noch da, von der Tante Bertha, schönet Landbrot, und Butter und Speck. Da machste dir und Tilda'n Stullen. Und denn bringste Stullen for Vata'n mit ...« Sie hatte noch zehn andere Weisungen für ihn, nur für sich hatte sie keine Wünsche.
Mit einem leisen Gefühl des Bedauerns sah Karl Siebrecht das helle lebendige Gesicht von seinem Schoß verschwinden. Das letzte, was er von ihr sah, war, wie sie neben ihrem Vater kniete. Sie hatte von dem Ofen warmes Wasser geholt, sie wusch das Gesicht des Schlafenden sachte ab. Das Licht der Stalllaterne erhellte ihr Gesicht, es war wie ein sanfter Stern in der düsteren Wirrnis der Bude. Karl Siebrecht trat in die Nacht hinaus.
14. Auf dem Zeichenbüro von Kalubrigkeit & Co
Karl Siebrecht trägt wieder seinen weißen, steifen Kragen. Vaters manchesterne Hosen sind von Rieke Busch gewaschen und hängen im Schrank neben den Sonntagshosen von Busch. Während Karl alle Tage seine Sonntagshosen trägt, kann der Maurer Walter Busch, der Dorsch, mit vollem Recht seine Arbeitshosen tragen: dank Riekes Mundwerk hat er wieder Arbeit. Und er arbeitet auch. Schweigsam und nüchtern, mit dem immer abwesenden Blick seiner blaßblauen Augen fügt er Stein an Stein und läßt zwischen ihnen die berühmte Fuge ohne Fehl und Tadel. Das Leben lächelt – Karl Siebrecht verdient hundertundzwanzig Mark im Monat, er ist Hilfszeichner, vorläufig noch auf tägliche Kündigung. Aber Herr Oberingenieur Hartleben ist ihm günstig gesinnt, der Junge hat trotz seiner Jugend, trotz seiner lückenhaften Kenntnisse alle Aussicht, fest angestellt zu werden.
Er hätte seine Schlafstelle bei der Brommen neben dem zweifelhaften Bäcker Bremer gut aufgeben und sich ein möbliertes Zimmer mieten können: seine Einkünfte erlauben das. Und er hätte auch der alten Minna ihre zweihundert Mark zurücksenden können, auch das erlauben seine Einkünfte. Wenn sie statt dessen auf ein Sparbuch gelegt worden sind, das Rieke Busch versteckt hat, so ist daran nur Rieke schuld. Diese nicht umzubringende, immer wieder neu hoffende Rieke, die trotz allen Mutes ein gesundes Mißtrauen in jeder Periode des Glücks setzt: »Wart man lieber ab, Karl! Det muß nich immer so weiterjehen! Keener weeß, wat kommen kann. Wenn de dir zweihundert Mark jespart hast, denn schickste diese weg! Eher nich!«
Wenn Karl Siebrecht auch lange nicht so mißtrauisch gegen das Glück der kleinen Leute war wie die durch hundert Erfahrungen gewitzte Rieke Busch, so war er doch ohne weiteres mit dem Zurückbehalten des Geldes einverstanden gewesen. Ja, man war im ganzen zufrieden mit dem jungen Mann auf der großen Zeichenstube der Baufirma Kalubrigkeit & Co. – aber war er mit der Zeichenstube einverstanden? Er war sich dessen nicht ganz sicher, er konnte es sich einfach nicht denken, daß dies von Bestand sein würde! Zwar die ersten unangenehmen Tage lagen hinter ihm, da man den von Herrn von Sender empfohlenen Knaben mit unverhohlenem Mißtrauen angesehen hatte. Zwei lange Tage fast hatte man ihm keine andere Arbeit gegeben, als Bleistifte zu spitzen, mit einem Messer Bleistifte so zu spitzen, daß eine lange, tödlich drohende, nadelscharfe Spitze entstand! Er hatte sehr intensiv an all die unangenehmen und lästigen Arbeiten denken müssen, die Rieke Buschs Leben fast den ganzen Tag ausfüllten, um durch dieses nadelspitze Fegefeuer mit Humor hindurchzukommen. Aber dieser intensive Gedanke hatte ihm entschieden geholfen: wenn sein schärfster Bedrücker, ausgerechnet der knapp zwei Jahre ältere Wums ihm einen Bleistift zurückgegeben hatte: »Da mach mal erst 'ne ordentliche Spitze ran! 'ne Spitze, die auch spitz ist!«, so hatte er mit entwaffnender Freundlichkeit gesagt: »Also 'ne Spitze, die 'ne Spitze hat? Wird gemacht, Herr Wums!« Und er hatte eben die Spitze noch einmal gespitzt, so daß sogar der picklige Wums nichts mehr hatte sagen können.
Am dritten Tage hatte dann aber der wortkarge, ältliche Oberingenieur Hartleben, der in einem heiligen Sonderraum neben dem Zeichensaal hauste, plötzlich losgeknurrt: Was denn das heißen solle? Die Herren Zeichner möchten sich ihre Bleistifte gefälligst selber spitzen wie üblich. Und der Oberingenieur hatte Karl Siebrecht persönlich an einen tiefen braunen Schrank geführt und ihn gefragt, ob er sich wohl zutraue, aus dem Wust von Bauzeichnungen, die dort ungeordnet aufgestapelt waren, die Zeichnung der Dachkonstruktion XYZ – Straße Nummer soundso viel aufzufinden – man brauche sie höchst nötig für die Baupolizei, die mal wieder stänkere ...
Karl Siebrecht hatte sich das zugetraut. Am nächsten Morgen schon war die Dachkonstruktion gefunden, und nun war der Junge beauftragt worden, eine endgültige Ordnung in das Durcheinander dieses Schrankes zu bringen. Tagelang waren Zeichnungen über Zeichnungen durch seine Hände gegangen, diese Zeichnungen, auf denen die Daumen der Poliere und der Bauschlosser ihre deutlichen Spuren hinterlassen hatten – er hatte sie verglichen, geordnet. Nun lagen sie Fach bei Fach, wie sie zueinander gehörten, von den Fundamenten bis zum Dachfirst, jedes Fach säuberlich beschildert, ein wohlgefälliger Anblick. Ja, es tat auch Karl Siebrecht wohl, als er diese von ihm geschaffene Ordnung sah. Aber war das alles? Eroberte man so Berlin?
Wenn Herr Oberingenieur Hartleben in seinem Allerheiligsten über der Planung ganzer Häuserblocks und Straßenzüge versunken saß, wenn von dort das eifrige Klappern seiner überlebensgroßen Reißschiene und seines gewaltigen Dreiecks klang, wenn Herr Oberingenieur Planungen von derart ungeheuren Dimensionen entwarf, daß er auf einem Riesentisch auf dem Zeichenblatt selbst bald hockte, bald auf den Knien mit weit hingestrecktem Oberkörper lag, als bete er demütig eine Gottheit an, dann durfte ihn niemand stören. Dann führte an seiner Statt in der Zeichenstube der Herr Diplomingenieur Feistlein das Kommando. Diplomingenieur Feistlein dünkte sich sehr viel, denn er hatte auf einer richtigen Hochschule studiert, was noch manch roter Schmiß in seinem blühenden Antlitz bewies. Die anderen, auch Herr Oberingenieur Hartleben, hatten im besten Fall ein Technikum besucht, sie waren nichts gegen Herrn Feistlein. Karl Siebrecht aber, der nicht einmal eine richtige Lehre durchgemacht hatte, der war schon der reine Garnichts.
Die geplanten Bauten im Bayrischen Viertel der Stadt Berlin beschäftigten Herrn Oberingenieur Hartleben sehr stark: als Karl Siebrecht mit dem Ordnen des einen Schrankes fertig geworden war, schickte ihn Herr Feistlein einfach an einen anderen Schrank. Und von dem anderen Schrank an einen dritten. Da aber Herr Feistlein, wie er oft stolz von sich sagte, kein pedantischer Ordnungsmensch war, sondern ein Architekt, also ein freier Künstler, wurde die hinter Karl Siebrecht entstandene Ordnung fast ebenso rasch wieder zerstört, wie sie geschaffen worden war, so daß alle Aussicht bestand, daß er mit dem Ordnen der zehn oder zwölf Schränke eine Lebensstellung erworben hatte. Nicht genug damit! Herr Feistlein ging auch dazu über, den Knaben Karl, wie er ihn nur nannte, zu Botendiensten zu verwenden. Dann mußten Marken von der Post geholt, nun Briefe zur Post getragen werden, jetzt war Zeichenmaterial herbeizuschaffen, nun ein Stoß Pausen auf eine Baustelle zu bringen. Für all solche Wege gab es nur den Knaben Karl.
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