»Wir müssen raus, Rieke!«
»Recht haste, Karl. Also rin in det Unwetta! Hoffentlich sitzt Vata noch im Grünen Baum!«
Der Grüne Baum, so voll er auch war, beherbergte doch den alten Busch nicht mehr, sie mochten noch so sehr in jedem Winkel nach dem stillen Trinker Ausschau halten. Hier wäre Karl Siebrecht nun schon am Ende seiner Suche gewesen, Rieke Busch aber wandte sich entschlossen zur Theke: »Wart 'nen Oogenblick, Karl«, flüsterte sie. »Die müssen hier doch Vata'n kennen –!«
Vor der Tonbank standen die Männer in Doppelreihen, aber auch das konnte Rieke nicht hindern. Sie schlüpfte dahinter, dorthin, wo der schwarzbärtige wortlose Wirt und seine um so wortreichere Wirtin in Seidenbluse mit viel Schmuck ihres Amtes walteten. Es waren die richtigen reich gewordenen Berliner Budiker: sie ganz Majestät mit viel Brust und viel Lippe, die Sorte falschverstandener Dame, von der man in einem Albdruck träumen kann; er noch etwas unsicher in seinem neuerworbenen Reichtum, aber beide gleich erbarmungslos, gleich gierig. »Was willst du?« herrschte sie sofort schrill die Rieke Busch an, während er vom Zapfhahn her einen giftigen Blick auf das Mädchen schoß.
»Können Se ma nich sagen, wann Vata weg is? Vata is der olle Busch. Vom Bau von dem Kalubrigkeit.«
»Da hätten wa ja ville zu tun, wenn wa uff alle Väta uffpassen wollten!« rief sie und goss mit unglaublicher Sicherheit eine Runde Korngläser voll. Und »Hier kommt keen Busch!« grollte der Budiker.
»Doch kommt er!« beharrte Rieke entschlossen. »Heut mittag hat er erst hier jesessen.«
»Wenn de det weeßt, is't ja jut, mach dir dinne!« schalt der Wirt.
Und seine Gnädige zu den Trinkern an der Theke: »Immer det Jefrage von die Mächen! Wenn de Leute bloß besser uff ihre Männer uffpassen möchten! Aba wir sollen allet wissen! Sind wir Auskunft?«
Die Trinker enthielten sich jeden Urteils, der Wirt aber fühlte sich bemüßigt, mit dem Fuß in der Richtung gegen Rieke zu stoßen, freilich nur drohend. »Hau ab, du!« sagte er.
»Det laß!« meinte ein Arbeiter. »Det Mächen is keen Stiebelknecht!«
»Wo se mir doch im Weje stehn tut!« brummte der Wirt, aber nur als Entschuldigung.
Rieke hob ihre Stimme. Sie stand da hinter der Theke, das dunkle Tuch mit den nassen Fransen um das helle Gesicht, sie war ganz unverschüchtert. Alle diese Männer, nüchterne, angetrunkene, sehr betrunkene schreckten sie gar nicht. Sie stand auf den Zehen, sie rief: »Is denn hier keena, der den ollen Busch kennen tut?«
»Seid doch mal stille!« rief einer. »Hört doch mal her! Hier is een Mächen, det fragt nach dem ollen Busch!« Einen Augenblick war Stille. »Der olle Busch«, sagte dann einer langsam, »det is doch der Rote mit dem jestutzten Vollbart, der uff dem jroßen Block jearbeetet hat?«
»Det is er!« rief Rieke. »Det is mein Vata!«
»Na, Mächen«, rief der Arbeiter ihr durch das Lokal zu. »Denn mußte nich nach dem ollen Busch fragen, denn fragste nach 'm Dorsch. Denn kennen se 'n alle.«
»Der Dorsch?« riefen sie. »Und ob wir den kennen! Der war heute hier!«
Und selbst die majestätische Wirtin sagte: »Det hättste jleich sagen sollen, Kleene. Den Dorsch kennen wa hier alle. Ich habe überhaupt jedacht, er heißt Dorsch. Ick habe immer Herr Dorsch uff ihn jesagt!«
»Nee«, sagte ein Arbeiter, nach einer weißen, kalkbespritzten Kleidung ein Maler. »Den haben se nur Dorsch jenannt, weil er nie den Mund uffmacht!«
»Woher soll ich denn det wissen?!« sagte die Wirtin sehr spitz und aus unfaßlichen Gründen sehr beleidigt. »Ick kümmer mir nich, wie die Leute heißen tun. – Is recht, Karl, sechs Mollen und 'ne Runde Korn – und wer zahlt von die Herren? Steh mir nich im Weje, Mächen!«
Mit der Feststellung, daß der olle Busch eigentlich der Dorsch war, schienen Rieke und ihr Anliegen abgetan. Aber Rieke gab nicht nach, sie ging von einem Tisch zum andern, sie fragte unermüdlich mit ihrer hellen Stimme, sie ertrug Abeisungen wie plumpe Späße mit der gleichen freundlichen Gelassenheit. Karl Siebrecht blieb nun hinter ihr. Er konnte ihr nicht helfen, sie sprach zehnmal besser als er die Sprache der Leute hier, sie hatte am ehesten Aussicht, etwas zu erfahren. Aber er konnte hinter ihr hergehen, er konnte stehenbleiben, wo sie stand – es war, als beschütze er sie, wenn er sie auch in nichts beschützen konnte. Sie beschützte sich am besten selbst! Und doch war es gut, hinter ihr drein zu gehen! Schließlich fand Rieke den Tisch, an dem ihr Vater gesessen hatte, noch spät am Abend gesessen hatte. Und sie erfuhr dort, daß der Dorsch noch einmal auf den Bau zurückgegangen war, um etwas zu suchen.
Karl Siebrecht flüsterte: »Ich glaube, ich weiß, was er gesucht hat: nämlich sein Maurerzeug! Ich hab doch den Rucksack mitgenommen und bei euch zu Haus abgesetzt.«
»Da haste recht, Karl!« rief Rieke, und ihre Augen leuchteten. »Du hast een kluget Köppcken. Uff sein Zeug is der Olle scharf, da kann er noch so blau sind. Komm, Karl, wir jehen uff den Bau!«
Der die Straße hinabfegende Wind sprang sie unbarmherzig an. Der Regen schlug gegen ihre Gesichter. Aber das war Wohltat nach dem Mief und Gestank der Kneipe. Sie atmeten tief. Als sie um die Ecke bogen, wehte der Wind noch stärker. Die beiden preßten sich Schulter an Schulter aneinander, blieben stehen, spähten in das tiefe Dunkel vor sich. Obwohl der Häuserblock nicht weit sein konnte, sahen sie nichts von ihm. Keine Straßenlaterne brannte mehr. Dann unterschieden sie langsam ein paar kleine, rotleuchtende Punkte und höher schwach schimmernde rote Rechtecke ... »Das sind die Koksöfen, an denen ich heute morgen gearbeitet habe!« rief Karl Siebrecht. »Komm, Rieke, faß mich an. Ich glaube, ich weiß den Weg.« Sie traten von der Pflasterung herunter in weichen, regengetränkten Schmutz. Er hielt ihnen die Füße fest, sie gingen vorsichtig ... Dann platschten sie tief in eine Pfütze. »Ach, Rieke!« rief Karl Siebrecht. »Wir hätten uns mehr rechts halten müssen! Ich bin ein großartiger Führer!«
»Det macht doch nischt«, lachte sie. »Nu können wa lospatschen, nu sind wa eenmal naß!«
Und sie patschten los, Hand in Hand, durch Nässe und Dreck, durch stürmischen Regen, dem schwachen roten Lichtschimmer der Warnlaternen entgegen. Langsam zeichnete sich auf dem wolkendunklen Nachthimmel die schwarze Kontur des Häuserblocks ab, erst flach geduckt, dann immer mehr aufsteigend, drohend. Stärker leuchteten die Koksfeuer in den Fenstern. »Wir müssen jetzt aufpassen, Rieke! Hier stehen überall Steine, Karren, Baubuden –« Und so plötzlich wuchs etwas Dunkles nah vor ihnen auf, daß sie schon dagegenrannten. Es waren Mauersteine, sie befühlten sie mit ihren Händen ... Sie lachten beide, atemlos. »Jedenfalls sind wir jetzt da. Hier, links um die Steine, müssen wir gehen.«
»Und wie finden wa Vata'n –?«
Ja, sie waren da, sie standen vor den Bauten, sie standen vor fünf, vor zehn, vor zwanzig, vielleicht vor fünfzig Häusern, die in einem Block vor ihnen lagen. »In manchen Häusern ist schon Elektrisch«, sagte Karl Siebrecht.
»Aber nich, wo Vata jemauert hat. Weeßte nich, wo Vata jemauert hat?«
»Nein, Rieke.«
»Det muß doch sind, wo noch Jerüste sind. Kannste nich sehen, wo Jerüste sind, Karl?«
»Das muß auf der anderen Seite sein, von den Koksfeuern weg. Hier ist schon alles fertig.«
»Na, denn komm, Karl! Faß mir an. Hier können wa überall jejen wat anrennen. Is doch jut, det de mit mir jekommen bist, ich bin nich jraulich, aber det hier ...«
Finster ragten die Bauten über ihnen in den dunklen Nachthimmel hinein. Sie hatte wie selbstverständlich ihre Hand durch seinen Arm gesteckt, und Karl Siebrecht führte das Mädchen nun höchst ungeschickt, denn dies war eine ganz ungewohnte Situation für ihn. Als sie aber gegen eine Karre angerannt und beinahe zu Fall gekommen waren, drückte er ihren Arm fester an sich, und von der Wärme des Mädchens floß ein ungewohntes, wohltuendes Gefühl in ihn. Sie tasteten sich vorwärts, hielten sich an Gerüststangen und riefen in leere Fensterhöhlen, in Türöffnungen, aus denen es säuerlich scharf nach frischem Kalk roch, hinein: »Vata! Herr Busch! Vata!« Ein öder Widerhall antwortete schwach, erstarb ...
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