Thomys Mutter überlegte immer noch stumm, deshalb nutzte ich die Gelegenheit ein paar Fragen loszuwerden, die sich in mir angesammelt hatten. »Was ist dieser Durchgang und wo führt er denn eigentlich hin?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Sarah. Du weißt schon viel zu viel. Vergiss alles und komm nie wieder her. Es ist besser für dich. Sag niemandem etwas davon und geh nach Hause.« Wieder liefen Tränen über ihr Gesicht. Ich war geschockt. Das konnte ich doch gar nicht. Und was war mit Thomy? Ich verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust und sagte, »das werde ich bestimmt nicht tun. Wir müssen Thomy finden. Du bekommst mich nicht aus dem Haus oder ich erzähle alles meinen Eltern.« Das würde ich sicher auch nicht tun. Ich wollte ja nicht zum Schulpsychologen, aber das wusste Thomys Mutter nicht. »Was ist das für ein Durchgang, wie funktioniert das und wo führt er hin, Maria?«, setzte ich streng blickend hinzu und ahmte meine Mutter nach. Ich war fest entschlossen mich nicht abweisen zu lassen und ich hatte noch nie Maria zu ihr gesagt, sondern immer Frau Mahler. Aber da wir ja nun so etwas wie eine Schicksalsgemeinschaft waren, erschien mir das nur richtig.
Sie sah mich ein wenig erstaunt an, lächelte dann aber zaghaft. »Du würdest das wirklich tun, nicht wahr?«
Ich nickte vehement. Offenbar wirkte Mutters strenger Tonfall auch bei anderen. Ich nahm mir vor mir das zu merken.
»Also gut. Ich freue mich, dass Thomas dir so am Herzen liegt. Er hat sonst niemanden außer mir. Was der Durchgang genau ist weiß ich leider selber auch nicht. Damals, als Thomas Vater geholt wurde, habe ich den Computer abgeschaltet, so wie Brioc mir das befohlen hatte. Brioc hieß Thomas Vater. Thomas wollte nicht auf mich hören und hat ihn vor einem halben Jahr wieder eingeschaltet. Anfangs lief er nicht richtig, aber Thomas konnte das Gerät reparieren. Seit ein paar Tagen steht das Energiefeld wieder, das den Durchgang auf die andere Seite erzeugt. Das Energiefeld ist, soweit ich verstanden habe, an etwas sehr Altes gebunden, das unter unserem Haus im Untergrund verborgen ist. Was genau, keine Ahnung! Thomas hat gesagt es speist sich aus der Erde. Ich müsste keine Angst um meine Stromrechnung haben. Ich wollte, dass er es wieder abschaltet und auf keinen Fall wollte ich, dass er hineingeht. Er muss herausgefunden haben, wie das funktioniert. Ich habe es ihm nicht gesagt. Der Durchgang ist nicht dauerhaft offen. Nur, wenn der Mond in der aufsteigenden Phase ist und den "Caput Draconis" durchquert hat ist er für dreiunddreißig Stunden nutzbar. Du musst den blinkenden Punkt auf dem Bildschirm berühren, um hineinzukommen. Vielleicht hat Thomy es doch noch herausgefunden oder sie haben ihn auch geholt.«
Mit großen Augen hörte ich ihr zu, doch ich verstand immer noch nichts. »Aber wo gelangt man hin, wenn man durchgeht?«, warf ich ungeduldig dazwischen.
Sie holte tief Luft, bevor sie mir antwortete. »In eine andere Welt. Anders als unsere. Frag mich nicht weiter. Ich war nie dort, aber es muss schön sein. Brioc hatte immer Sehnsucht danach gehabt. Die ganzen Jahre, die er bei mir war.«
»Ihr seid nie hinübergegangen? Das verstehe ich nicht, wenn man doch nur durchgehen muss,« bemerkte ich verblüfft.
»Hineingehen ist nicht das Problem, aber wieder zurückkommen wohl schon. Brioc wollte das nicht riskieren, da er Feinde auf der anderen Seite hatte und mich nicht in Gefahr bringen wollte.«
»Diese andere Welt, sind dort auch Menschen?«, ich brannte förmlich vor Neugierde, nachdem ich meinen ersten Schock überwunden hatte.
»Wohl nicht alle. Es ist aber sehr gefährlich, anders als hier. Brioc hat die Sicherheit hier genossen und hätten sie ihn nicht geholt, wären wir glücklich zusammen alt geworden. Thomas hat seinen Vater kaum gekannt. Er hat immer sehr darunter gelitten.« Sie senkte traurig den Kopf.
»Es tut mir so leid«, sagte ich mitfühlend, aber in mir reifte ein Entschluss. Nur eines passte irgendwie nicht zusammen und ich hoffte, dass sie eine Antwort dazu hatte. »Ich verstehe immer noch nicht ganz, wieso dieser Durchgang nun auch auf meinem alten Computer war«, überlegte ich.
»War? Ist er denn wieder verschwunden?«, fragte Thomys Mutter erstaunt.
»Keine Ahnung! Ein paar Platinen sind durchgeschmort, nachdem ich versucht hatte den Stecker aus der Steckdose zu ziehen.«
Sie lächelte erleichtert. »Dann ist das Problem ja gelöst. Du darfst nicht hinübergehen, hörst du. Du hattest Glück, dass du auf der Wiese herausgekommen bist, obwohl ich das nicht verstehe, da es wohl nur einen Ausgang auf der anderen Seite gibt.«
»Tja, ich bin hier. Offenbar ist das nicht richtig. Was sind Eriny, Maria?« Thomys Mutter zuckte bei der Frage zusammen. Eine Gänsehaut lief ihren Arm hinauf.
»Keine Menschen, glaube ich jedenfalls. Ich weiß, das klingt verrückt. Sie sehen uns ähnlich, aber sie sind anders, zumindest die, die Brioc geholt hatten. Und gruselig.«
Ich zweifelte nicht an ihren Worten. Dazu war schon zuviel geschehen, was es eigentlich nicht geben dürfte.
»Vielleicht findet er wieder zurück. Ich werde den PC jedenfalls laufen lassen und wenn es für den Rest meines Lebens sein muss«, sagte sie schließlich traurig.
Es war schon fast dunkel, als ich wieder zuhause ankam. Ich war nicht durch den Wald gefahren, sondern außen herum, denn wenn dort etwas war, dann würde es vielleicht in der Dämmerung jagen. Davon hatte ich Thomys Mutter nun doch nichts erzählt, denn das hätte ihr jede Hoffnung genommen und so behielt ich es für mich. Außerdem war ich fest davon überzeugt, dass Thomy noch am Leben war. Ich stellte mein Fahrrad ordentlich in der Garage ab und ging nachdenklich ins Haus. Meine Eltern waren nicht da, meine Großmutter saß vor dem Fernseher und schaute sich eine Sendung über Katzen an. Meine Großmutter liebte Katzen.
»Hallo Oma!«, ich gab ihr einen Kuss auf die Wange.
»Hallo, Kleines. Wie war es bei Thomas?«, sie musterte mich kritisch.
Warum hatte ich immer das Gefühl, dass meine Großmutter einen Röntgenblick hatte und immer merkte, wenn es mir nicht gut ging.
»Thomy ist verschwunden. Frau Mahler geht es gar nicht gut«, sagte ich bedrückt.
»Verschwunden? Warum?«, fragte sie überrascht. »Das sieht ihm nicht ähnlich. Armer Junge.«
»Wir verstehen es auch nicht. Ich hoffe es ist ihm nichts passiert. Die Polizei will den Wald absuchen.« Ich sagte das ganz kühl, ohne Emotionen. Meine Großmutter sah mich scharf an. Vielleicht war es besser, wenn ich in Tränen ausbrach, aber ich konnte einfach nicht. Heucheln war noch nie meine Stärke.
»Bist du nicht traurig darüber. Du reagierst so komisch«, kam prompt ihre Reaktion auf mein Verhalten.
»Ich bin fix und fertig, Oma. Geweint habe ich schon genug. Ich will die Hoffnung nicht aufgeben, dass er wieder nach Hause kommt.« Eine Träne rollte aus meinem Augenwinkel und ich atmete ein paarmal tief durch, um nicht doch noch los zu heulen.
Draußen fuhr ein Auto in die Garage. Das war bestimmt meine Mutter. Ich stand auf. »Möchtest du Tee? Ich mache welchen.« Meine Großmutter nickte zustimmend. Rasch ging ich in die Küche. Ich wollte alleine sein, denn ich musste nachdenken. Ein paar Minuten später kam meine Mutter durch die Seitentür zur Garage herein.
»Hallo ihr Lieben. Ich bin wieder da!«, rief sie. Sie kam in die Küche und stellte eine Tüte ab. »Könntest du das in den Kühlschrank räumen, ma chérie? Hattest du einen schönen Tag mit Thomy?«, fragte sie mich im hinausgehen, ohne mich anzusehen.
Ich antwortete nicht. Offenbar hatte es sich noch nicht herumgesprochen, dass Thomy vermisst wurde. Meine Großmutter nahm es mir ab, sie zu informieren. Bestürzt kam meine Mutter zurück in die Küche und nahm mich in den Arm. »Das ist ja schrecklich«, sagte sie mit einem besorgten Blick in mein Gesicht.
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